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BLIND GEHÖRT ALEXANDRE THARAUD

„Sie spielt wie eine Hexe“

In der Reihe „Blind gehört“: Der Pianist Alexandre Tharaud hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt.

vonJakob Buhre,

Gar nicht so einfach, sich in den vielen Gebäuden und Gängen des Hessischen Rundfunks in Frankfurt zurecht – und den Gesprächspartner für das „Blind gehört“ zu finden: Alexandre Tharaud, der an diesem Abend im HR-Sendesaal auftritt. Als der französische Pianist schließlich die Tür seiner Künstlergarderobe öffnet, wirkt er geschafft, einerseits von den Proben für die Uraufführung Future is a faded song des Franzosen Gérard Pesson, andererseits vom Jetlag; noch vor zwei Tagen spielte er ein Konzert in Malaysia. Dennoch nimmt sich Tharaud eine Stunde Zeit, macht es sich auf einer Couch bequem und lauscht aufmerksam den Aufnahmen. Hat er genug gehört, bittet er, die Musik auszuschalten um sich ungestört auf sein Resümee konzentrieren zu können.

Bach: Klavierkonzert d-Moll BWV 1052 

Swjatoslaw Richter (Klavier),

Tschechisches Philharmonisches Orchester,
Václav Talich (Leitung)

Supraphon 1967/2010

Also, diese Aufnahme klingt schon mal etwas älter, die Art, wie hier Bach gespielt wird, ist eine etwas altmodische. Das Tempo ist sehr langsam, es sind moderne Instrumente, moderne Geigenbögen… Und der Klang des Pianisten ist sehr voll und tief, essenziell. Der Pianist will etwas Einfaches, er braucht nichts außer den Klang, der ist das Zentrum, er kommt ohne Effekte aus. Seine Interpretation ist einfach und sie hat eine Richtung – das gefällt mir. Meine Herangehensweise ist allerdings ganz anders, ich spiele dieses Konzert viel mehr im Barockstil, schneller und leichter. Ich habe es mit Les Violons du Roy aufgenommen, einem kanadischen Barockorchester. Die spielen auch mit Barockbögen, da ist natürlich die Phrasierung und alles sehr anders. Trotzdem gefällt mir das hier, ich mag auch diese alte Mikrofonierung, du kannst das Holz des Klaviers hören. Swjatoslaw Richter? Das habe ich nicht erkannt. Aber sehen Sie: Was ich gerade eben gesagt habe – simpel, direkt, langsames Tempo – das trifft ja genau auf sein Spiel zu, wie man es kennt.

Scarlatti: Sonate in E-Dur

Vladmir Horowitz (Klavier)

CBS 1979/Sony 2011

Das ist wahrscheinlich ein sehr guter Pianist – aber ich mag die Interpretation nicht. Ich vermisse das Spiel, die Leichtigkeit. Scarlatti braucht Ideen, Phantasie, du musst mit dem Klavier spielen, so wie zwei Menschen miteinander spielen. Gut, vielleicht nicht Fußball, aber eben ein Spiel, wie ein Kind, ein Baby. Das hier ist zu ernst für mich, ich vermisse den Witz, ein Augenzwinkern, das Tanzen, die Sinnlichkeit. Horowitz sagen Sie? Seltsam, normalerweise spielt er Scarlatti mit viel mehr Esprit und Inspiration. In dieser Sonate ist er mir zu geradeaus und zu ernst. Er war für mich auch nicht der beste Scarlatti-Interpret, wobei er natürlich viele Sonaten aufgenommen hat. Für meinen Geschmack war zum Beispiel Clara Haskil eine wunderbare Pianistin für Scarlatti. Ich mag auch die Aufnahmen von Marcelle Meyer, die Chinesin Zhu Xiao-Mei ist fantastisch. Und dann natürlich Cembalisten wie Pierre Antheil, der ist großartig!

Rameau: Suite in e-Moll – Allemande

Angela Hewitt (Klavier)

Hyperion 2007 

Ist das eine Aufnahme aus den letzten Jahren? Dann kann es nur Angela Hewitt sein. Ich mag den Klang des Klaviers, ich mag ihr Spiel – und ich weiß sehr gut, wie schwer es ist, Rameau auf einem modernen Flügel zu spielen. Es sind ja gewissermaßen auch Orchesterstücke, einige Suiten hat er später für Orchester bearbeitet, die erklangen dann in seinen Opern. Und da finde ich es interessant, dass man hier auf dem modernen Klavier auch solche Orchesterfarben hört, die verschiedenen Instrumente. Ich spiele das aber etwas anders, die Verzierungen sind bei ihr nicht so sehr im barocken Stil – und den Barockstil habe ich lange studiert. Es ist zwar nicht möglich, auf einem modernen Klavier wie ein Cembalist zu spielen, aber ich mag barocke Verzierungen. Die Aufnahme ist wunderbar, und es gibt nicht so viele Pianisten, die Rameau aufnehmen. Weil in den 60er Jahren die Spezialisten aufkamen, Cembalisten und Barock-Dirigenten. Vorher hat man alles gespielt, Scarlatti, Rameau, Couperin. Doch in den 60ern gab man uns Pianisten zu verstehen, unser Stil sei nicht korrekt gewesen. Viele Cembalisten sind aufgetreten und die Pianisten sind verstummt, fast 50 Jahre lang. Als ich 2002 Rameau aufnahm, dachte ich mir: Vielleicht ist es jetzt eine gute Zeit, diese Musik wieder zu spielen. Wer weiß, vielleicht hätten ohne meine Einspielung Angela Hewitt oder andere Pianisten Rameau gar nicht gespielt. Das war ja ein Schock für manche Leute, weil Rameau auf modernem Klavier immer noch ungewohnt war. Auch für harmonia mundi war es schwer, meine CD zu veröffentlichen, aber ich wollte diese Musik einfach spielen. Und jetzt, nach 12 Jahren, denke ich, dass es wirklich eine gute Idee war. Es gibt inzwischen 10 bis 15 neue Aufnahmen von anderen Pianisten, wie zum Beispiel von Tzimon Barto.

Chopin: Préludes op. 28

Nr. 4 e-Moll & Nr. 11 B-Dur 

Martha Argerich (Klavier)

Deutsche Grammophon 1984

Das ist eine Schülerin von Martha Argerich. Woran ich das merke? Das Rubato zum Beispiel ist sehr virtuos, es gibt an manchen Stellen dieses Loslassen. Das Spiel ist sehr inspiriert, wie ein Tier, sehr instinktiv. Vielleicht ist es auch Argerich selbst, aber dafür erkenne ich den Klang hier nicht genug. Ich glaube aber, dass es eine Frau ist. Weil… weil sie so spielt wie eine Hexe. Es ist diese Art, zu sagen: Ich vergesse alles und fange an zu spielen. So ein besonderer Drang, zu leben, nach dem Motto: Ich werde morgen sterben, also lass mich spielen! Ich mag diese Interpretation, weil die Pianistin hier die Partitur aufschlägt und einfach losspielt, also mit großer Spontaneität.

 

Debussy: Préludes

„La Danse de Puck“ &

„Des pas sur la neige“

 Pierre-Laurent Aimard (Klavier)

Deutsche Grammophon 2012

(unterbricht nach wenigen Takten) Der Klang ist wundervoll, alles ist sehr überlegt, alle Nuancen sind perfekt. Alles ist perfekt. – Aber ich mag Debussy viel sinnlicher, ich brauche da mehr Bewegung. Für mich ist das hier zu streng, ein wenig zu hart, zu ordentlich, da ist keine Magie. Das ist jetzt aber nur meine persönliche Einstellung, und ich bin nicht Claude Debussy. Ich spiele sehr viel französische Musik, viel Debussy, da habe ich meine ganz eigene Art und Weise. Vielleicht muss ich die ganze CD hören, um diese Interpretation zu verstehen. Ich bevorzuge Pianisten wie Benedetti Michelangeli oder Marcelle Meyer, die die Noten nicht spielt, sondern singt. Bei ihr vergesse ich das Klavier. In dieser Aufnahme höre ich das Klavier noch, dabei würde ich lieber andere Instrumente hören wollen, die Natur, den Wind, in Des pas sur la neige würde ich gerne den Schnee hören. Aber das hier ist mir zu perfekt, zu konkret. Ich möchte jetzt allerdings nicht sagen, wen ich hier vermute, ich will zu niemandem gemein sein. Aimard sagen Sie – ja, das hätte ich auch gesagt. Er ist ein fantastischer Pianist, doch ich finde, Debussy braucht mehr. Dabei bin ich mir aber auch nicht sicher, es ist nur meine Meinung, mein persönlicher Geschmack, vielleicht ist es in Wirklichkeit eine fantastische Version.

Chopin: Nocturne Nr. 2 Es-Dur op. 9

aus: Impressions on Chopin‘s Nocturnes

Jaques Loussier (Klavier)

Telarc 2009

Aha, hier improvisiert jemand. Den kenne ich aber nicht. Oder warten Sie mal… ist das ein Franzose? Ich würde auf Loussier tippen. Das ist lustig, ich mag Loussier, aber viel mehr, wenn er Bach spielt. Bach ist für mich auch näher am Jazz als Chopin. Spätestens nach fünf Minuten würde ich hier wieder das Original hören wollen. Wobei (lacht), die Stelle hier gefällt mir. Ich improvisiere auch manchmal, das ist sozusagen mein geheimer Garten, ich komme aber nicht so oft dazu. Als ich sechs Jahre alt war, mochte ich es nicht besonders, zu üben, da habe ich am Wochenende oft stundenlang improvisiert, ich wollte nicht den ganzen Tag nur Mozart oder Bach spielen. Mit 20 habe ich dann Stummfilme begleitet, das war eine sehr gute Schule. Chopin hat ja auch viel improvisiert. Wir wissen, wenn er in einem Konzert eine Ballade gespielt hat, dass das schon mal 25 Minuten dauern konnte. In der Zukunft könnte es ganz interessant sein, an Improvisation im Stile Chopins zu arbeiten. Wir spielen Chopin heute sehr genau und vergessen dabei, dass er auch ein Improvisationstalent war.

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