Sein Ziel ist die Revolution der Orgelwelt. Und er ist auf dem besten Weg, seine Vision zu realisieren. Der 30-jährige Amerikaner Cameron Carpenter ist ein Mann mit Ideen und Ehrgeiz, kommunikativ, hochvirtuos und mit weitem musikalischen Horizont. Und nicht nur Orgel spielen kann er – auch eine klassische Tanzausbildung hat er absolviert.
Cameron, wie sind Sie zur Orgel gekommen?
Angefangen hat es mit einem Bild in einem Lexikon, das einen Kino-Organisten aus den 20er Jahren zeigte. Der saß da in einem Frack vor diesem wunderbaren Instrument, und davon ging für mich eine Aura des Außergewöhnlichen, des ganz Besonderen aus. Diese Faszination spüre ich bis heute, wenn ich auf der Bühne oder anderswo auf eine Orgel zugehe. Die Orgel ist das kraftvollste Musikinstrument und das mit der größten Bandbreite, und ich fand es immer befremdlich, dass sie so an die Kirche gebunden ist. Die Orgel ist kein kirchliches Instrument. Es ist an der Zeit, mit diesem Missverständnis aufzuräumen.
Sie sind gerade dabei, unser Bild der Orgel zu revolutionieren.
Es ist Zeit für eine Revolution. Allein die Tatsache, dass der Organist für Hunderte von Jahren im Verborgenen saß, im Rücken der Kirchenbesucher und von seinem Instrument verdeckt – das hat sich nicht zufällig so entwickelt. Die Kirche wusste, dass das, was sie den Menschen bot, nicht mithalten konnte mit dem visuellen Ereignis, einen Organisten spielen zu sehen. Was war wohl interessanter: Christus am Kreuz zu betrachten oder, sagen wir, Bach an der Orgel spielen zu sehen?
Sie mögen Kirchen nicht besonders?
Ich bin kein religiöser Mensch, und ich habe keine besondere Beziehung zu Kirchen. Ich spiele überwiegend in Konzertsälen, und das ist einer der Gründe, warum ich die transportable digitale Orgel entwickelt habe. Die zu verwirklichen, ist meine größte Vision, und ich bin überzeugt, sie wird die mit weitem Abstand großartigste Orgel der Welt werden.
Wie soll sie funktionieren?
Es gibt acht Lautsprecher-Module, die auf einem LKW transportiert werden können. Jedes Modul hat unten einen Tieftöner, und die weiteren Lautsprecher stecken an einem Teleskop-Arm, den man 16 Meter hoch ausfahren kann. Jedes einzelne Element lässt sich vom Kontrollsystem der Orgel aus steuern, man kann den Klang also der jeweiligen Akustik anpassen und die Klanggeografie einer Kirchenorgel imitieren, ohne deren Mängel – dass zum Beispiel manche Pfeifen vorn, andere hinten stehen. Der Klang meiner Orgel hat nichts mit dem zu tun, was wir von herkömmlichen Digitalorgeln kennen. Die nutzen Samples von einer Sekunde Länge, die dann auf verschiedene Tonhöhen transponiert werden. In meiner Orgel gibt es für jeden Ton ein Sample, und jedes Sample ist ungefähr fünf Minuten lang. Es sind Samples von Orgeln aus aller Welt, das ergibt eine fantastische Bandbreite. Die Charakteristik, die Unvollkommenheit eines Tones, der aus einer Orgelpfeife kommt, bleibt also erhalten, das sind keine künstlich-perfekten Töne. Aber sie sind alle gleich klar. Und noch etwas: Meine erste Orgel war eine Hammond B3, und da ist der Klang sofort da – das ist mein Ideal geblieben. Wenn man auf einer Kirchenorgel eine Taste drückt, dauert es, bis die Luft in der Pfeife ankommt und der Ton erklingt. Ich habe lange gedacht, dass die Kirchenorgel das schönste Instrument der Welt ist. Bis ich gemerkt habe, es kann ein Instrument geben, dass den Klang der Pfeifen mit einer sofortigen Ansprache verbindet. Und schließlich ist es mir auch wichtig, dass ich auf der Bühne sitzen und mich dem Publikum zuwenden kann.
Wie weit sind Sie in der Entwicklung?
Die technischen Probleme sind gelöst, jetzt suche ich Sponsoren, um anderthalb Millionen Dollar aufzubringen. Dafür baut mir die Fabrik in Boston zwei Instrumente, eines wird in Boston bleiben, das andere kommt nach Berlin. Die Berliner Orgel wird mit einem Studio und einem Web-Casting-Equipment ausgestattet sein, ich schaffe mir also meine eigene Digital Concert Hall.
Und dann reisen Sie mit der Orgel durch Europa.
Da eröffnen sich unglaubliche Möglichkeiten. Ich kann in allen Konzertsälen, aber auch in der Waldbühne auftreten, ich kann in Schulen oder Gefängnissen spielen, in Aufnahme- und Fernsehstudios, ich kann mit allen möglichen Leuten zusammenarbeiten – und immer habe ich das beste Instrument zur Verfügung, das man sich nur vorstellen kann.
Aber ist es nicht auch spannend, auf verschiedenen Orgeln und in verschiedenen Akustiken zu spielen?
Mich interessiert die Musik, nicht die Probleme und Möglichkeiten einzelner Instrumente. Wenn Martha Argerich eine Prokofjew-Toccata spielt, und das Klavier klingt nicht so, wie sie es sich vorstellt, kommt der Klavierstimmer und ändert etwas. Wir gehen nicht ins Konzert, um den Klang dieses einen Steinway oder Bechstein in diesem speziellen Konzertsaal zu erleben. Sondern um Martha Argerich und die Prokofjew-Toccata zu hören. Mich interessiert das musikalische Konzept, und wenn ich das entwickelt habe, möchte ich es in München genauso verwirklichen können wie in Milwaukee. Ich möchte nicht, dass mich eine Orgel daran hindert. Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass ein Organist auf immer anderen Instrumenten spielen muss. Aber das muss nicht mehr so sein.
Wurde denn nicht der größte Teil des Orgelrepertoires für die Kirche geschrieben?
Es gibt achthundert Jahre Orgelmusik und enorm viele Werke, die nichts mit der Kirche zu tun haben, selbst von Reger und Dupré, die auch viel Kirchengebundenes geschrieben haben. Nehmen Sie die Werke von Siegfried Karg-Elert, die für mich viel großartiger sind als diese albernen Sinfonien von Widor. Oder die großartigen Sinfonien von Vierne. Auch Bachs Präludien und Fugen sagen nichts über Gott aus. Selbst wenn ich die h-Moll-Messe höre, bin ich überwältigt, aber ich fange nicht an, über Gott nachzudenken. Das Wichtigste für mich ist, dass ich großartige Musik spiele. Und vieles, was ich spiele, transkribiere ich von anderen Instrumenten, vor allem vom Klavier.
Aber wenn Sie mit einem Orchester spielen wollen, müssen Sie Saint-Saëns spielen, wo Sie nicht viel zu tun haben.
Das ist ein tolles Stück, aber kein Orgelkonzert, das stimmt. Deshalb komponiere ich. Zu Neujahr haben wir mein erstes Konzert für Orgel und Orchester, Der Skandal, mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen uraufgeführt, dem weitere folgen sollen. Es gibt kein vernünftiges Repertoire für diese Besetzung. Das ist schade, aber auch eine tolle Aufgabe. Überhaupt ist die Orgel sozusagen die letzte große Herausforderung. Ich bin der ehrgeizigste Mensch, den ich kenne. Und mein Ziel ist, in den nächsten zehn Jahren der Rachmaninow der Orgel zu werden.
Warum sind Sie nach Berlin gezogen?
Ich wollte mit meinem deutschen Freund zusammenleben, ich habe viele Konzerte in Europa. Und noch wichtiger: Berlin eröffnet mir Möglichkeiten, die ich mir in meinen zehn Jahren in New York immer gewünscht habe: ein kulturell interessiertes Umfeld, ein finanzierbares Leben, genug Platz für meine Instrumente – und ein wunderbares Musikleben.
Ein tolles Musikleben hat New York doch auch.
Ja, wenn man einige Tausend Dollar im Monat ausgeben kann. Die Atmosphäre ist eine andere hier. Die Künstler, die das Kulturleben Berlins ausmachen, leben mitten in Berlin. In New York leben sie weit draußen, weil sie sich die Stadt nicht leisten können. Ich fühle mich wohl hier. Ich bin von einigen Organisten in der Stadt sehr herzlich empfangen worden. Ich habe zum Beispiel einen Schlüssel zur Matthias-Kirche in Schöneberg, da kann ich spielen, wann immer ich will. Das ist wunderbar.
Sie haben an der Juilliard School auch Cembalo studiert. Ton Koopman sagt, Cembalo sei schwerer zu spielen als die Orgel, wo der Klang vieles verdeckt.
Er ist ein großer Spieler auf historischen Instrumenten – und die interessieren mich nicht die Bohne. Was für ihn eine gute Orgel ist, hat nichts mit dem zu tun, was für mich eine gute Orgel ausmacht. Ich finde die alten Instrumente unglaublich frustrierend, weil ich mich so limitiert fühle. Auf dem Cembalo ist es noch schwieriger, Farben herzustellen, insofern wundert es mich nicht, was Ton Koopman sagt. Bei allem Respekt, es gibt diesen Reflex in Bezug auf die Orgel: Je härter man auf einem Instrument arbeiten muss, um seine musikalische Ideen zu verwirklichen, desto besser. Das ist idiotisch. Warum muss ich auf einer Orgel spielen, wo die Manuale unkomfortabel angeordnet sind, wo ich die Registerzüge einen halben Meter rausziehen muss, wo die Pedale in einer Linie angeordnet sind, dass ich die äußeren Töne kaum noch erreiche – wenn ich doch ein ergonomisch perfekt gestaltetes Instrument spielen kann? Auf dieser Foltermaschine genannt historische Orgel hat man so sehr mit den physischen Herausforderungen zu kämpfen, dass man sich kaum auf die Musik konzentrieren kann. Aber ich fürchte, viele Organisten sind mehr am Instrument und an einer historisch korrekten Spielweise interessiert als an der emotionalen Botschaft der Musik.
Warum tragen Sie so ungewöhnliche Konzertkleidung?
Ich finde, wenn Leute viel Geld für eine Konzertkarte zahlen, muss man ihnen etwas bieten. Aber es geht auch um Ehrlichkeit. Ich will gar kein normaler Organist sein, und mit meiner Kleidung schiebe ich die Frage der Normalität sofort beiseite und damit auch meine Unsicherheit – vielleicht kommt es daher, dass ich nie Lampenfieber habe. Abgesehen davon würde ich mich im Frack eingeengt fühlen. Ich habe viele Jahre getanzt, Ballett und Modern Dance, sehr ernsthaft, bis ich etwa 20 war. Ballett ist übrigens sehr nützlich fürs Orgelspiel, weil das Instrument den ganzen Körper fordert. Und ich trage im Konzert Kleidung, in der ich auch tanzen könnte. Aber der erste visuelle Eindruck ist enorm wichtig. Das gilt auch für die Orgel. Wir gehen in eine Kirche und sehen da dieses riesige Ding an der Wand hängen, das nichts Gutes verheißt. Allein von dieser physischen Präsenz geht eine Botschaft aus, noch bevor wir den ersten Ton gehört haben. Und so präsentiere ich mich auch dem Publikum, noch bevor die Leute mich hören.
Und Sie sprechen mit dem Publikum.
Ja, immer. Ich komme aus einer nicht-musikalischen Familie, ich musste das, was ich mache, immer schon einem nicht-musikliebenden Umfeld verständlich machen. In Amerika haben die meisten Leute im Publikum keine Ahnung von Musik. Und das finde ich sehr stimulierend. Für Connaisseure und Experten zu spielen, ist einfach, aber 3.000 Highschool-Schüler zu begeistern, die nur Rock und Country kennen und sich vor allem für Sport interessieren – das ist der Test. Kann ich einen Riesensaal in einer Klassik-fernen Umgebung füllen? Kann ich die Leute nach Hause schicken mit dem Wunsch, dass sie mehr hören wollen? Das sind die wahren Herausforderungen.