Das Instrument des Jahres? Ginge es nach Christian Schmitt, wäre jedes Jahr ein Orgel-Jahr, so viel Programm könnte er reinpacken. Außerdem hätte er dann noch mehr zu erzählen und würde dabei vermutlich weder seine Studierenden in Rotterdam noch seine Aufgabe als „Artist in Residence“ in Augsburg noch seine kuratorische, solistische und beratende Tätigkeit in der Tonhalle Zürich vergessen. Mit jugendlicher Verve schafft er einfach alles. Sein Publikum, seine Studierenden, eigentlich alle in seinem Umfeld dürfen sich glücklich schätzen: Dieser Multitasker ist ein nimmermüder Ermöglicher.
Ihr Wissen und Ihre praktische Expertise haben Sie zu einem gefragten Berater beim Neubau von Orgeln gemacht. Wie kann man sich diese Tätigkeit vorstellen?
Christian Schmitt: Nehmen wir als Beispiel Zürich, wo die Tonhalle komplett renoviert und in Zuge dessen auch eine neue Orgel von der Schweizer Firma Kuhn gebaut wurde. Diese Orgel darf ich als „Artist in Focus“ am 23. September in einem großen Eröffnungskonzert unter der Leitung von Paavo Järvi zum ersten Mal erklingen lassen. Vier Jahre arbeite ich für die Tonhalle-Gesellschaft bereits an diesem Projekt. Grundlegend für die Planung war, dass man ein Instrument brauchte, das dem Orchester dienlich ist, also die Aufführung sinfonischer Literatur möglich macht. Es sollte im Klang sehr weich sein, aber auch Kraft im Orchesteralltag mitbringen. Da der Organist des Tonhalle-Orchesters gleichzeitig für Klavier und Celesta zuständig ist, also ziemlich eingespannt ist, wurde jemand gesucht, der Erfahrung mit vielen unterschiedlichen Orgeln vorweisen konnte. Die Wahl fiel auf mich, da ich schon viele Jahre mit den Bamberger Symphonikern zusammenarbeite und bei den Berliner Philharmonikern im Orchester spiele.
Zu achtzig Prozent erklingt das Instrument mit Orchester, das ist etwas völlig anderes als eine solistische Darbietung. Die großen sinfonischen Orgelwerke von Fauré, die „Alpensinfonie“ von Strauss, die zweite Sinfonie von Mahler: All diese Werke fordern enorme Leistung von der Orgel. Ein barockes Positiv wie in kleineren Konzertsälen oder Kirchen ist da einfach nicht ausreichend. Und man muss auf die Wünsche der Dirigenten eingehen können, die eine persönliche Klangvorstellung haben und einfordern. Wenn er zum Beispiel sagt, dass er diese Vierfuß-Flöte nicht hören möchte, und es fehlt an einer Alternative, weil man beim Bau nicht daran gedacht hat: Dann ist man am Ende seines Lateins. Eine Sache wird auch oft unterschätzt: Der Spieltisch darf nicht zu groß sein, denn das ist ein Störfaktor auf der Bühne mit vollbesetztem Orchester. Christian Thielemann wollte bei der Aufführung des Brahms-Requiems in der Berliner Philharmonie unbedingt Sichtkontakt zu mir als Organisten und die Orgel mittig integriert im Orchester wissen. Das alles sind Details, die plötzlich wichtig werden. Nicht zuletzt klingt jeder Raum anders, er spielt sozusagen mit. Insofern arbeite ich auch mit den Akustikern zusammen, die heute auf modernste Messmethoden zurückgreifen können. Ich denke, wir haben das gut gemeistert. Nun freue ich mich auf die Eröffnung und auf das erste Festival zu Pfingsten 2022, das ich kuratieren darf.
Sie haben auch selbst eine Orgel gebaut, und zwar eine digitale nach dem Vorbild der Orgel in der Philharmonie Essen. Was waren die Herausforderungen bei diesem Projekt?
Schmitt: Die Idee war ganz einfach und grundlegend. Wenn Orchester auf Reisen gehen, haben sie in manchen Konzertsälen ein Problem: Sobald das Programm ein Werk mit Orgel beinhaltet, muss ein Instrument her. Es darf nicht so viel kosten und sollte wegen des Transports auch nicht zu sperrig sein. Die meisten Rundfunkorchester besitzen eine Digitalorgel, aber die ist meistens dreißig bis vierzig Jahre alt. Meine Überlegung war also: Wie kann man mit einfachen Mitteln eine sehr gute, sicher transportable Orgel bauen, die den Ansprüchen genügt und auf dem neuesten Stand ist? All diese Parameter habe ich mit einer niederländischen Firma besprochen, die im Sampling-Bereich führend ist. Die Spezialisten fanden insbesondere die Herausforderung spannend, eine Orchesterorgel zu konstruieren, die einfach nur eine einzige Orgel im Innenleben hat und nicht massiv Speicherplatz beansprucht. Wir haben also die Orgel in der Philharmonie Essen Pfeife für Pfeife gesampelt und nun den Prototypen gebaut. Er hat zudem ein exzellentes Audiosystem, um das volle Klangvolumen abspielen zu können.
Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?
Schmitt: Vollkommen! Im Konzerthaus Dortmund haben wir sie getestet, in Realsituation also. Jeder Konzertsaal ist anders, Nachhallzeit, Materialien und Obertöne verändern den Gesamtklang, da muss man sehr schnell reagieren können. Und genau das kann ein digitales Instrument. In der Württembergischen Philharmonie, wo ein weiterer Testlauf stattfand, war der Klang zum Beispiel sehr trocken, die Orgel hat im Bassbereich komplett nachgelassen. Oder im Staatstheater Saarbrücken, wo wir die „Orgelsinfonie“ von Saint-Saëns spielten und plötzlich die Höhen zu stark im Raum klirrten. Momentan steht unsere Orgel in Brünn, wo wir mit Dennis Russell Davies eine CD-Aufnahme realisiert haben. Da kam der Tonmeister zu mir und sagte, dass die Stimmung der Orgel nicht passt. Bei amerikanischen Orchestern liegt das A auf 440 Hertz, wir hatten den Kammerton auf 442 Hertz nach deutscher Stimmung eingestellt. Ein Problem? Kein Problem! Denn der Wert lässt sich digital umgehend ändern! Und falls vor Ort ein gutes HiFi-System vorhanden ist, kann das Instrument per Schnittstelle auch direkt verbunden werden.
Wird die Orgel in Serie gehen? Wenn ja: Was soll sie kosten?
Schmitt: Ja, es gibt bereits Interessenten. Die Herstellerfirma heißt Mixtuur, sie haben diverse andere digitale Instrumente im Angebot. Es gibt drei Qualitäts-Level, unsere Orgel liegt auf Level 2. In der bestehenden Konfiguration, in der die Einzelteile in vier Flightcases passen, kostet sie 55.000 Euro.
Zurück zum analogen Instrument. Wie erklärt man einem Kind, wie eine Orgel funktioniert?
Schmitt: Das ist relativ einfach. Die meisten Orgeln, die in Konzerträumen oder Kirchen stehen, sind ja visuell äußerst eindrucksvoll und greifbar. Man sieht die Pfeifen, von den kleinsten bis zu den größten. Man kann den Kindern schnell klarmachen, wie so etwas funktioniert, indem man einfach mal in eine Pfeife hineinbläst. Das ist der erste Schritt. Im Gegensatz zu einer Silbermann-Orgel von 1730 ähneln moderne Orgeln ja eher Raumschiffen. Und je nachdem, wie groß das Instrument ist, kann man mit den Kindern auch tatsächlich hineingehen. Beim Rheingau Musik Festival habe ich das bei einer Kinderführung gemacht. Wir haben uns den Balg angeschaut und beobachtet, was passiert, wenn das Instrument eingeschaltet wird. Bei historischen Orgeln kann man den Balg sogar noch mit dem Fuß treten. Und dann schauen wir uns den Spieltisch an, ob er integriert ist oder freisteht, ob er mechanisch oder elektrisch funktioniert. Ich lasse die Kinder auch gerne selbst spielen, sie dürfen dann eine Taste drücken und hören, was passiert. Dann schalte ich einige Register dazu, was die Kinder immer überrascht, weil sie merken, wie sich der Klang plötzlich ändert. Ich vergleiche das gerne mit einer Gangschaltung beim Auto. Wir schalten einen Gang höher, und sofort erklingen wie aus dem Nichts Flöte, Oboe oder Principal.
Sprechen solche technischen Details eher die Jungs an?
Schmitt: Ich hatte vor Kurzem in meiner Heimat, dem Saarland, mehrere Schulklassen zu Gast. Die Jungs fanden es faszinierend, einfach mal auszurechnen, wie viele Pfeifen die Orgel hat. Wenn man viereinhalb Oktaven im Umfang zur Verfügung hat, kann man das in einem Register relativ einfach ausrechnen. Das sind dann ungefähr 60 Pfeifen. Mal 35 Register, abzüglich der geringer besetzten Pedaltasten, macht das ungefähr 2.100 Pfeifen. Es war auch eine Klasse dabei mit Mädchen, die Mathe-Leistungskurs hatten. Die haben dann ausgerechnet, wieviel Luft man benötigt, damit das Instrument bei umfangreicher Registerwahl funktioniert.
Sie engagieren sich auch im Rahmen des Musikvermittlungsprojekts „Rhapsody in School“. Da gibt es ja ein kleines Problem …
Schmitt: Ja klar. Meine Kurse laufen ganz anders ab als bei anderen Musikerkollegen. Denn ich kann ja mit meinem Instrument nicht in die Klasse gehen, sondern die Schülerinnen und Schüler müssen zu mir kommen. Ich schlage dann eine Orgel vor, die ich schon gut kenne, beispielsweise weil ich dort gerade ein Konzert vorbereite. Kleine Klanggeheimnisse und Geschichten kann ich bei der Vorführung locker einstreuen. Das macht die Sache spannend.
Was war die überraschendste Frage, die Ihnen in einem Kurs gestellt wurde?
Christian Schmitt: Das war interessanterweise nicht in Deutschland, sondern in China. Da hat mich einer der Schüler gefragt, ob ich Yoga mache. Da war ich zunächst platt. Aber die Frage ist ja berechtigt. Inzwischen praktiziere ich tatsächlich Yoga und bin total begeistert davon. Während des Lockdowns habe ich wie viele andere meinen Tagesablauf umgestellt, verständlicherweise konnte ich auch kein Fitnessstudio besuchen. Wir Organisten müssen vor allem unseren Rücken stärken, Arme und Hände mit Dehnübungen lockern. Das ist gar nicht esoterisch, sondern körperorientiert und schafft einen Ausgleich zu den einseitigen Bewegungen, die wir als Musiker permanent ausüben. Ab einem gewissen Alter sollte man etwas tun (lacht). Ich bin ja nunmehr ein so genannter Mid-Ager. Seitdem ich die Professur in Rotterdam übernommen habe, in der Nachfolge von Ben van Oosten, fühle ich mich etwas „gesetteter“. Ich habe bisher fünf Studierende, die ich von ihm übernehmen durfte. Das ist natürlich ein enormes Erbe, das ich weiterzuführen versuche. Er war ein großes Vorbild für mich, gerade im sinfonischen Bereich.