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Interview Daniel Cohen

„Sie ist plump, sie ist schludrig, sie ist menschlich“

Daniel Cohen, Generalmusikdirektor am Staatstheater Darmstadt, über seine späte Leidenschaft für die Oper, seine komplexe Beziehung zu Richard Wagner – und über eine gescheiterte Komponistenkarriere.

vonAndré Sperber,

Seit 2018 ist der israelische Dirigent Daniel Cohen Generalmusikdirektor am Staatstheater Darmstadt. Dort bereitet man sich gerade auf die lang geplante und coronabedingt stetig verschobene Premiere der Massenet-Oper „Don Quichotte“ vor. Als Cohen am Nachmittag den Anruf entgegennimmt, kommt er gerade von der ersten Orchesterprobe. Die Euphorie ist ihm noch anzumerken.

Herr Cohen, wie ist die Probe gelaufen?

Daniel Cohen: Es macht so großen Spaß, endlich wieder ein großes Orchester zu hören! „Don Quichotte“ ist die erste Produktion seit Corona, in der der Graben voll besetzt ist, und das Orchester spielt fantastisch. Dieser milde Klang, aber auch der Humor und die Flexibilität in Massenets Musik – es ist ein unglaublich gutes Stück, eine tolle Mischung aus kitschig und sublim. Auch das großartige Bühnenbild kommt endlich zu Einsatz. Teile davon hatten wir ja zwischenzeitlich in der spontan entstandenen Produktion von Händels „Lucrezia“ und Boulangers „Faust et Hélène“ verwendet. Es ist faszinierend zu sehen, wie ein und dasselbe Bühnenbild total verschiedene Geschichten erzählen kann.

Fühlen Sie sich mittlerweile schon am Staatstheater Darmstadt zu Hause?

Cohen: Das ist jetzt schon meine vierte Spielzeit an diesem Haus und ich fühle mich wirklich wohl in der Stadt. Man spürt besonders in diesen Zeiten, was für ein Zusammenhalt in diesem Theater herrscht. Mit den richtigen Leuten kann man alles schaffen. Wir haben ein super Ensemble und ein tolles Orchester, das auch sehr mutig ist und keine Angst hat, auch mal Risiken einzugehen.

Lassen Sie sich auch von der weitreichenden Darmstädter Musikgeschichte inspirieren?

Cohen: Meine erste große Begegnung mit der Musik der Darmstädter Ferienkurse hatte ich schon früher während meiner Zusammenarbeit mit Pierre Boulez. Allerdings habe ich erst hier erfahren, dass Darmstadt zur Zeit Ludwig I. auch ein sehr großes Zentrum für Barockmusik war. Ich habe in der Handschriftensammlung der Staatsbibliothek Opern von Christoph Graupner gefunden, die seit ihrer Uraufführung nie mehr gespielt wurden. Auch auf viele vergessene Werke von Briegel und Telemann bin ich gestoßen. Durch diese Recherche habe ich mich schließlich entschieden, das Barockfest Darmstadt zu gründen. In diesem Jahr erwarten wir tolle Gäste wie Sonia Prina, Avi Avital oder Isabelle Faust. Wir haben ein echtes Superstar-Team, um hier in Darmstadt Geschichte zu feiern.

Sie waren mehrere Jahre Assistent von Pierre Boulez und Daniel Barenboim. Welche verschiedenen Führungsstile haben Sie in dieser Zeit kennengelernt?

Cohen: Vieles hat natürlich mit Persönlichkeit und Charakter zu tun: Barenboim ist eine Explosion von Charisma, er ist elektrisierend. Boulez war genau das Gegenteil, seine Art von Charisma war eine ganz andere. Er war sehr korrekt, sehr seriös. Aber trotzdem hatte er so viel Autorität. Trotzdem waren die beiden gar nicht so unterschiedlich. Sie waren großartige Lehrer und haben immer versucht, dem Orchester die Musik möglichst nahe zu bringen. Wir haben nicht nur gelernt, wie man die Musik zu spielen hat, sondern auch, was sie bedeutet.

Haben Sie sich dennoch ab und zu gedacht: Das werde ich später mal anders machen?

Cohen: Natürlich. Aber was ich bei ihnen gelernt habe, kann ich mir dabei trotzdem zunutze machen. Das Wichtigste ist ohnehin zu verstehen, worauf es in der Musik ankommt. Erst wenn man das verinnerlicht hat, kann man seine eigene Persönlichkeit und den eigenen Geschmack einbringen.

Dirigieren lernte Daniel Cohen u. a. bei Pierre Boulez und Daniel Barenboim
Dirigieren lernte Daniel Cohen u. a. bei Pierre Boulez und Daniel Barenboim

Denken Sie, dass das Bild des Dirigenten als totale Autorität im Orchester heute veraltet ist? Sollte man mit den Musikern mehr auf Augenhöhe sein?

Cohen: Der Kommunikationsstil zwischen den Menschen ist heute zum Glück angenehmer geworden. Verrückte, die vor dem Orchester stehen und schreckliche Dinge schreien – sowas existiert fast nicht mehr. Aber der Dirigent ist nach wie vor eine Autorität, denn er ist das vereinende Element. Durch ihn haben hundert Einzelne die Möglichkeit, den einen bestimmten Charakter des Kollektivs herauszubringen. Andersherum werde auch ich als Dirigent von der Phrasierung, von der Artikulation, vom Charakter der Leute im Orchester beeinflusst. Es ist ein ständiges Wechselspiel zwischen dem, was man gibt und dem, was man bekommt. Der Dirigent ist kein Gleichgestellter im Orchester, aber er ist auch kein Diktator. Er ist in seiner Position etwas völlig anderes, einzigartiges.

Sie sind ausgebildeter Violinist, haben zehn Jahre unter Barenboim im West-Eastern Divan Orchestra gespielt. Warum haben Sie entschieden, Dirigent zu werden?

Cohen: Ich habe das Geigenspiel immer geliebt, aber eigentlich war es von Anfang an mein Lebenstraum, ein Komponist zu sein. Neben dem Geigenstudium habe ich auch Komposition studiert. Aber leider sind keine guten Kompositionen herausgekommen. Ich weiß nicht warum. Am Dirigierpult habe ich dann den besten Output für meine Kreativität gefunden.

Schlummern denn noch irgendwo unveröffentlichte Werke von Ihnen?

Cohen: Nein, ich habe alles verbrannt. Das habe ich von Brahms gelernt: Alles was nicht gut genug ist, kommt ins Feuer (lacht).

Wie war Ihre Beziehung zum Musiktheater? Wussten Sie immer schon, dass es Sie irgendwann zur Oper verschlägt?

Cohen: Überhaupt nicht! Als junger Musiker habe ich mich nur mit Kammermusik und sinfonischem Repertoire beschäftigt. In meinem Umfeld vertrat man die Meinung, dass in diesen Gattungen die wahre Musik liegt. Mit der Oper hatte ich fast nichts zu tun, sie galt eher als verrufen, als keine hohe Kunst. Ich glaube, bei meinem Probedirigat an der Deutschen Oper Berlin hat niemand wirklich verstanden, dass ich überhaupt keine Erfahrung im Opern-Dirigieren hatte. Trotzdem habe ich die Stelle bekommen. Diese zwei Jahre dort als Kapellmeister waren für mich so eine Art Bootcamp. Ich hatte notgedrungen eine sehr steile Lernkurve. In meiner ersten Spielzeit in Berlin habe ich mehr Opern dirigiert als in meinem ganzen Leben zuvor.

Entdeckte erst spät seine Leidenschaft für die Oper: Daniel Cohen
Entdeckte erst spät seine Leidenschaft für die Oper: Daniel Cohen

Akzeptieren Sie denn die Oper mittlerweile als Kunstform?

Cohen: Natürlich! Streichquartette und Sinfonien haben etwas sehr Puristisches und Abstraktes. Die Oper ist das genaue Gegenteil davon. Sie ist plump, sie ist schludrig, sie ist menschlich – und der schönste Spiegel von Gesellschaft und Zeitgeist. Und sie hat so unendlich viele Möglichkeiten, da sie so viele verschiedenen Disziplinen der Kunst zusammenbringt.

Als Operndirigent ist es fast unmöglich an Richard Wagner vorbeizukommen. Sie sind in Israel aufgewachsen, wo das öffentliche Aufführen von Wagner noch immer ein Tabu ist. Wann sind Sie Wagners Musik das erste Mal begegnet?

Cohen: Als ich sechzehn war, hat ein Freund von mir eine CD von „Tristan und Isolde“ gekauft, diese berühmte Kleiber-Aufnahme. Er hat sie mir dann quasi unter der Tischplatte zugesteckt, heimlich, als wäre es Pornografie oder so. Das war der erste Ton von Wagner, den ich je gehört habe. Gespielt habe ich Wagner dann das erste Mal mit Barenboim und dem West-Eastern Divan. Der Wunsch, das zu spielen, kam vom Orchester selbst. Aber es war ein sehr komplizierter Prozess mit sehr vielen Diskussionen. Am Ende haben wir uns dazu entschieden, es zu probieren. Barenboim hat dann am Klavier eine fast zweistündige Introduktion zu Richard Wagner gegeben mit allen Einzelheiten – Musikalisches, Biografisches und Politisches. Das war unglaublich!

Wie denken Sie heute über das Schaffen Wagners?

Cohen: Wagner und sein Schaffen waren nur in genau dieser Zeit des 19. Jahrhunderts möglich. Die Menschen dachten damals, sie könnten die Welt ändern und einfach eine ganz neue Mythologie aufbauen. Man muss wirklich megaloman sein, so etwas zu denken. Allein der Gedanke an ein Projekt wie den „Ring des Nibelungen“ wäre in keinem anderen Jahrhundert möglich gewesen. Der Optimismus und der Größenwahn, die damit verbunden waren, sind unvorstellbar. Aber den Versuch, diese griechische Idee in Form eines Gesamtkunstwerks, das aus der Synthese verschiedener Disziplinen entsteht, zu reproduzieren, hat nie jemand besser oder ehrlicher unternommen.

Im Mai dirigieren Sie in Darmstadt den „Lohengrin“. Ruft das bei Ihnen auch jetzt noch innere Konflikte hervor?

Cohen: Ja, das Ganze ist eine sehr komplizierte moralische Frage, auf die ich keine wirklich gute Antwort habe. Es gibt andere Komponisten, die ich nicht spiele, etwa Hans Simon oder Hans Pfitzner. Dass ich die Musik von Richard Wagner dirigiere, bedeutet natürlich nicht, dass er für mich ein guter Mensch war. Wenn man seine Musik spielt, ist es wichtig, dass man sie mit aller Komplexität spielt, die darin steckt. Ob wir wollen oder nicht: Die Musik von Richard Wagner ist infiziert mit der Persönlichkeit des Richard Wagner und mit dem Symbol, das Wagner für das Dritte Reich war. Man kann und soll gern viel darüber diskutieren, ob das so richtig ist oder nicht. Aber es wäre falsch, diese Musik ohne ihre Hintergründe zu spielen. Nur zu sagen, das ist schöne Musik und alles andere interessiert mich nicht, das ist zu einfach. Und umgekehrt gilt auch: Seine Musik nicht zu spielen, weil sie infiziert ist, damit löschen wir auch eine sehr wichtige und schmerzhafte Episode der deutschen und jüdischen Geschichte aus dem Gedächtnis. Und das ist nicht weniger gefährlich.

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