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Blind gehört Daniel Sepec

Beethoven war eine Rampensau

Der Geiger Daniel Sepec hört und kommentiert CDs seiner Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonArnt Cobbers,

Vielseitiger als Daniel Sepec kann ein Geiger kaum sein. Der 45-jährige Frankfurter, der sich selbst einen „Hybridgeiger“ nennt, ist seit 1993 Konzertmeister der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und bildet mit Antje Weithaas, Tabea Zimmermann und Jean-Guihen Queyras das Arcanto-Quartett. Er ist aber auch Konzertmeister des auf historischen Instrumenten spielenden Balthasar-Neumann-Ensembles und macht viel Kammermusik mit Andreas Staier. Außerdem konzertiert er als Solist und unterrichtet als Professor in Basel.

Biber: Sonata IV D-Dur für Violine solo (1681)

John Holloway (Barockgeige)

Aloysia Assenbaum (Orgel)

Lars Ulrik Mortensen (Cembalo) 2001

ECM

Das kenne ich nicht, aber es klingt sehr nach Biber. Es ist auf jeden Fall etwas Süddeutsches. Ich liebe diese Musik sehr, auch das hier ist wunderschön. Ein Stück mit Skordatur, die E-Saite ist auf D gestimmt. Es ist sehr schön gespielt, wenngleich ich es vermutlich etwas elastischer spielen würde. Es ist eher verhalten, mit wenig Vibrato gespielt, ich tippe auf einen englischen Geiger. Ich mag keine Schubladen, aber generell beindrucken mich englische Aufnahmen mit ihrer Unaufdringlichkeit. Biber hat viele ganz einfache, aber wunderschöne Melodien geschrieben, die zu Herzen gehen, und andererseits immer wieder sehr schöne überraschende Wendungen. Ich vermute, er war ein exzentrischer Mensch. Ein Satz in den Rosenkranzsonaten steht zum Beispiel im forte, und beim letzten Akkord steht piano. Solche Effekte hat Bach nie benutzt. Diese Verblüffungseffekte gehörten zu Bibers Ausdruckswelt, ebenso die Skordatur, das Umstimmen der Saiten. Man darf das auf keinen Fall auswendig spielen, das geht schief. Die Stücke sind in Griffnotation geschrieben. Bei den 16 Rosenkranzsonaten gibt es 15 verschiedene Stimmungen. Aufgenommen habe ich das mit drei Geigen, im Konzert habe ich gern mehr dabei, einmal habe ich es sogar mit acht Geigen gespielt, weil die Gefahr groß ist, dass sich die Geige zu schnell verstimmt. Das ist ein Riesenaufwand, aber es ist sehr reizvoll. Die Geige resoniert anders, wenn sie beispielsweise in Quarten und Oktaven gestimmt ist. Man kann viel weitreichender mit Doppelgriffen experimentieren, manches klingt dann irgendwie fremd und reizvoll.

Händel: Concerto grosso op. 6 Nr. 5 D-Dur

Academy of Ancient Music

Andrew Manze (Leitung) 1997

harmonia mundi

Händel zu spielen macht sehr viel Spaß, ich liebe die Concerti grossi. Dies hier ist ein sehr wirkungsvolles Stück, aber gar nicht so leicht zu spielen, weil es schnell abgedroschen wirken kann. Man muss sehen, dass man die Spannung hält, dass man zum Beispiel die Wiederholung hier im ersten Satz interessant gestaltet. Ich vermisse in dieser Aufnahme ein bisschen das rhythmische Moment, Händel ist unglaublich rhythmisch und sexy, das muss einem in den Körper fahren. Das hier schwingt nicht so ganz, obwohl es metrisch stimmt. Ein englisches Ensemble? Von denen hätte ich es ein bisschen anders erwartet. … Die klanglichen Möglichkeiten eines Kammerorchesters sind schon toll, das ist wie ein erweitertes Streichquartett, und durch die Bläser kommt noch eine zusätzliche Farbe dazu. Es macht Spaß, das als Konzertmeister zu leiten. In Bremen haben wir Vivaldis Vier Jahreszeiten aufgenommen, das habe ich als Solist geleitet. Für die Violinkonzerte vor Beethoven braucht man eigentlich keinen Dirigenten. Aber dirigieren werde ich, glaube ich, nicht, auch wenn für einen Konzertmeister der Schritt dahin nicht sehr groß ist. Ich bin kein Dirigent, ich bin dirigentisch, schlagtechnisch nicht gut.

Mozart: Violinkonzert Nr. 3 G-Dur KV 216

Viktoria Mullova (Violine & Leitung)

Orchestra of the Age of Enlightenment 2001

Philips

Das ist herrliche Musik! Relativ gemütliches Tempo, das finde ich angenehm. Schade ist, dass man manchmal die einzelnen Geiger im Tutti heraushört. Das Orchester klingt englisch oder holländisch (es ist englisch). Ich würde auch das spritziger spielen. Ich empfinde Mozart als sehr sanguinisch, wechselnd in den Stimmungen. Das ist mir etwas zu gesetzt, aber das ist Geschmackssache. Es ist auf jeden Fall sehr schön gespielt. Es klingt, als wäre es ein Geiger, der nicht aus der Alten Musik kommt, sich aber sehr auskennt. Viktoria Mullova? Das ist eine tolle Geigerin. Ich habe manchmal ein Problem mit der Kombination Mozart und russische Geiger. Das hier finde ich sehr schön.

Beethoven: Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60

Anima Eterna

Jos van Immerseel (Leitung) 2005

Zig Zag Territoires

Ein toller Klang, ziemlich bassbetont, düster. Viel schneller, als wir es spielen. Es klingt wie ein großes Orchester. Nein? Sehr ungewöhnlich, streng metronomisch, das muss ein Dirigent sein, der nicht konventionell denkt. Das ist aber nicht Harnoncourt, oder? Dessen Beethoven kenne ich nicht. Das ist erfrischend zu hören, weil es so anders ist, als wir es in Bremen mit Paavo Järvi machen. Es hat was durch dieses ganz strenge metronomische Spiel und ist gut durchhörbar, sehr spritzig gespielt. Keine Ahnung, wer das ist. Aber es ist schön! Anima Eterna habe ich nie gehört, da spielt mein Bruder oft mit. … Wir spielen mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen auf Stahlsaiten, das ist unsere Herkunft. Ich finde, Beethoven kann man auch gut auf modernen Instrumenten spielen. Wir haben ja einen klaren Grundklang, wir spielen mit wenig Vibrato. … Die Umstellung zwischen modernem und altem Instrument geht bei mir mittlerweile fast automatisch. Das Instrument, die Saiten, der Bogen zeigen mir, wie ich spielen soll. Schwerer für mich ist der Umstieg vom alten aufs moderne Instrument. Man braucht beispielsweise mit der linken Hand mehr Kraft, um die Stahlsaiten runterzudrücken. Und die technischen Anforderungen sind im Barock nicht so groß, was das Spiel in den höheren Lagen betrifft. Ich lebe in unterschiedlichen Phasen, von Projekt zu Projekt. 

Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61

Patricia Kopatchinskaja (Violine)

Orchestre des Champs-Élysées

Philippe Herreweghe (Leitung) 2008

naïve

Das Stück kenne ich von beiden Seiten, das habe ich als Solist und als Konzertmeister gespielt. Es ist ziemlich flott und ein heller Klang. Ich finde es schade, wenn man die repetierten Sechzehntel im Tutti so einzeln hört, ich denke, das muss eher aufgeregt als akkurat wirken. (die Geige setzt ein) Schön! Das kann eigentlich nur Thomas Zehetmair sein. Ist es Patricia Kopatchinskaja? Über diese Aufnahme habe ich schon viel gehört. Das meiste finde ich überzeugend, manches manieriert. Gut, das viele Vibrato gefällt mir manchmal nicht, aber so extrem, wie ich es erwartet hätte, ist es auch nicht. Sie hat dieses Stück mal bei uns in Bremen gespielt, ich war nicht dabei, da haben sich die Geister sehr geschieden. Auf jeden Fall ist es sehr gut gespielt, mühelos und mit sehr schönem Klang… In dieser Passage hier ist überhaupt nichts verrückt… Na gut, dieser Mittelteil der Durchführung ist grenzwertig. Das Horn hat hier unten das Anfangsmotiv der Pauke, und wenn man das so viel langsamer spielt als das Grundtempo, dann habe ich damit ein Problem. … (Kadenz) Ist das zweistimmig aufgenommen? Im wahrsten Sinne des Wortes abgefahren! Ich finde es genial, dass man die Möglichkeiten einer Aufnahme mal so ausnutzt. Hätte Beethoven seine Kadenz in der Fassung für Klavier nicht selbst so geschrieben, würde es bestimmt heißen, man kann doch nicht die Pauke in der Kadenz einsetzen! … Wenn man von der Alten Musik kommt, gewinnt man einen anderen Begriff von Werktreue. Wenn ein Genie wie Beethoven alles so genau notiert, will man seinen Anweisungen natürlich genau folgen. Fermaten auszuzieren, Bindungen bei Sechzehntelketten zu ergänzen, das widerspricht der Werktreue-Auffassung, aber ich glaube nicht, dass das verkehrt ist. Aus der Länge seiner niedergeschriebenen Kadenzen schließe ich, dass Beethoven im Konzert eine Rampensau war. Ich stehe nicht per se auf Verrücktheiten, aber wenn es in sich schlüssig ist, finde ich es gut. Was braucht die Welt? Ehrliche Musiker, die etwas von ihrer Persönlichkeit geben. Und wenn die Verrücktheit von Herzen kommt, dann gerne. Was ich überhaupt nicht mag, ist, wenn man ein Stück für heilig erklärt. Es muss lebendig bleiben und darf nicht erstarren. Diese Aufnahme finde ich schon extrem, aber interessant, lebendig und schön!

Album Cover für
Vivaldi: Die Vier Jahreszeiten
Daniel Sepec (Violine & Leitung)
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Coviello Classics

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