Als Hans-Werner Henze im April 2011 in Berlin war, um den Musikautorenpreis der GEMA für sein Lebenswerk zu erhalten, trafen wir uns in der Lobby seines Hotels in Berlin-Mitte. Gerade genesen von einer langen Krankheit, wirkte er körperlich noch schwach. Geistig aber war er voll da. Allerdings ließ er oft lange Pausen vor und während seiner Antworten, manche Fragen mochte er auch gar nicht beantworten – da schaute er einfach lange ins Leere und dann wieder mich an, als Aufforderung, die nächste Frage zu stellen.
Herr Henze, Sie sind nach wie vor aktiv als Komponist. Was treibt Sie an?
Es finden sich immer noch Themen, die ich nicht berührt habe, aus Respekt, aus Angst, aus dem Gefühl, dass ich dafür vielleicht nicht geeignet wäre. Jetzt habe ich angefangen, ein a-cappella-Oratorium zu schreiben für den Leipziger Thomanerchor, wer hätte das je gedacht. Aber das interessiert mich sehr als Auseinandersetzung mit der Mehrstimmigkeit, dieser bestimmten Art der Mehrstimmigkeit, aus der die Wiener Klassik geboren ist.
Was bedeutet Ihnen das Komponieren?
Ich bin nicht geeignet für Olympische Spiele, auch als Autorennfahrer bin ich nicht besonders gut – ich habe nur sieben Unfälle hinter mir. (lange Pause) Ich lebe in einer etwas anderen Zivilisation, als man in Deutschland lebt. Das hat etwas Anziehendes, das Andere, die italienische Kultur, die, das kann man wohl sagen, sehr stark vom Vatikan geleitet wird – deutlich vernehmbar oder in den Kulissen. Eigenartig, befremdlich, die mir mein Fremdsein auch klar vor Augen und vor Ohren stellt. (lange Pause) Den größten Teil meines Lebens habe ich in Italien verbracht, ich bin nach Italien gegangen, da war meine Jugendzeit noch gar nicht beendet, und bin geblieben. Das hat etwas zu tun mit meinem Interesse an der europäischen Klassik – die wiederum zu tun hat mit der griechischen Philosophie und der Kunst.
Ist das Komponieren für Sie eine Lust oder auch eine Last?
Ich beschäftige mich mit nichts anderem als der Entstehung und der Weiterführung meiner Stücke. Auch hier bin ich durch Berlin Mitte spaziert, in meinem Inneren das bevorstehende Stück. Es ist viel Arbeit damit verbunden.
Sie beschäftigen sich immer mit Musik?
Es geht durch die lange Beschäftigung mit diesen Dingen inzwischen so weit, dass ich manchmal träume, dass ich komponiere, mit veritablen Noten und veritablen musikalischen Vorgängen. Das ist eigentlich ein Zustand, nach dessen Realisierung man sein Leben lang strebt.
Arbeiten Sie jeden Tag?
Wenn Sie ein Stück konzipiert haben, kommen Sie bei ungestörter Arbeit jeden Tag vielleicht dreißig Takte weiter, und daraus entwickeln sich die nächsten. Man muss eigentlich, um nicht Schiffbruch zu erleiden, den Schwierigkeiten jeden Tag wieder begegnen, um zu sehen, ob man die Hürde nimmt, die sich da aufgebaut hat.
Wie ist es, wenn Sie Ihre eigenen Stücke hören? Entwickeln die ein Eigenleben?
Das kommt öfter vor, vielleicht leider, vielleicht ist es auch gut so. Wenn ich ein Stück jahrelang nicht gehört oder die Partitur nicht angesehen habe, frage ich mich manchmal: Hast du das wirklich geschrieben? Ich denke mir, dass man gut tut, von Zeit zu Zeit das Getane so weit wegzuschieben im eigenen Bewusstsein, dass es Freiräume gibt, in die man weitergehen kann.
War oder ist die Versuchung nicht groß, einzuschreiten, wenn Interpreten ein Werk anders lesen, als Sie beabsichtigt haben?
Früher habe ich ja auch zum Taktstock gegriffen. Und konnte auf diese Weise ermessen, welche Schwierigkeiten es gibt beim Erlernen einer Partitur, ganz zu schweigen von der Wiedergabe einer Partitur. Und welche intellektuelle Mühe es bedeutet, zu dirigieren. In einigen Fällen hatte ich das Vergnügen von Wiederbegegnungen. Beispielsweise habe ich jahrelang in der Karajan-Zeit die Berliner Philharmoniker dirigieren dürfen, die waren so toll im Aufgreifen meiner Zeichengebung und folgten mir neugierig in meinem Musikdenken und Produzieren von Musik – das war sehr schön. Das war eine sehr freundliche Verbindung. Hier und da durfte ich wiederkommen. Hier und da wollte ich auch nicht wiederkommen.
Lesen oder hören Sie lieber Musik?
Ich höre. Früher habe ich wahrscheinlich mehr gelesen. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich große Leseerfahrungen gemacht hätte.
Können Sie Musik genießen?
Oh ja.
Sie hören nicht immer mit dem analytischen Ohr des Komponisten?
Oh nein. Wenn ich in Deutschland oder in England bin, gehe ich jeden Abend in ein Konzert. Im wunderbaren neuen Auditorium Parco della Musica in Rom habe ich mit Antonio Pappano und dem Orchester von Santa Cecilia Mahlers Sechste gehört. Der Streicherklang spielt eine ganz wichtige Rolle in diesem Stück, er hat eine fast symbolhafte Funktion.
Steht Ihnen Mahler besonders nahe?
(nickt)
Was bedeutet Ihnen die Tradition? Reibungsfläche oder Rückhalt?
Letzteres. Von dort kommen unsere Erkenntnisse und Kenntnisse. Wie für die Schriftsteller – nicht alle, aber einige – Kleist und Hölderlin ein täglich Brot sind, eine geistige Nahrung. Das können Sie auf Musik übertragen.
Das hat auch Schönberg gesagt, und doch ist er radikal neue Wege gegangen.
Nicht in so radikalem Maße, wie es die Amerikaner getan haben. Von den Streichquartetten bis zu den Orchesterstücken ist da immer ein starkes Verhältnis zu Beethoven erkennbar. Und selbst bei Komponistenkollegen meiner Generation, die sich ihr ganzes Leben lang mit ihren eigenen Vorstellungen von Kontrapunkt, von Zusammenklang, von Ausdruck, von Inhalt beschäftigt haben, spürt man immer wieder: Das kommt von Monteverdi oder aus einer bestimmten Tradition. Aus dem Klang eines Streichquartetts etwas Unerhörtes zu machen, das ist eine Aufgabe, die man sich stellen kann, wenn man glaubt, dass es notwendig sei, vielleicht auch nur für sich selbst notwendig. Sie ist eine eigenartige Kunst, die Musik…
Die Initialzündung für Ihre Stücke war immer ein Bild, ein Text, eine Stimmung, oder?
Vielleicht war das so, weil ich so viel fürs Theater gearbeitet habe. Meine Notenbilder sind Gestalten, die davon ausgehen, dass ihre Grundformen bekannt sind für den Hörer, ich richte mich an eine Hörerschaft. Man hat gemeinsame Themen, man arbeitet mit Feedback. Wie es in den Wald schallt, so kommt es zerzaust zurück. Bei mir zum Beispiel ist sogar mehrfach als Wort aufgeschrieben: Versuche, den Schönheitsbegriff der Klassik in unsere Zeit zu transportieren.
Der Schönheitsbegriff der Klassik war immer Grundlage Ihrer Arbeit?
Ja.
Aber die Avantgarde war nach dem Zweiten Weltkrieg doch auch für Sie eine Befreiung?
Natürlich. Wir kannten ja nichts, das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Die ersten amerikanischen, englischen, französischen Partituren wurden durch die Kulturoffiziere der Siegermächte auf dieses zerrüttete Mitteleuropa als heilende Kräfte gebracht. Und das waren sie auch. Mein erster Alban Berg waren die fünf Altenberg-Lieder. Ich hatte gerade die Uniform ausgezogen, und dann kam dieses heilende Erlebnis. (lange Pause) Es hat etwas Befreiendes, eine Tür aufzumachen und wieder zu schließen. Aber die Strenge wollte nicht gehen.
Gibt es Wünsche, die Sie sich noch erfüllen wollen?
Ich würde gern nochmal ein Streichquartett schreiben. Und einige Wünsche sind angemeldet worden von Orchestern.
Warum ein Streichquartett?
Weil meine bisherigen Quartette in einer rasenden Geschwindigkeit zwischen Tür und Angel geschrieben werden mussten, und das ist doch eine Kategorie von Musik, die gedanklich ist. Am besten fängt man erst damit an, wenn man die Gedanken hat. Habe ich sonst noch Absichten? Aufräumarbeiten, Revisionen, vor allem am König Hirsch.
Eine undankbare Arbeit…
Sie grenzt ans Unmögliche. Am besten nimmt man eine frische Seite Notenpapier und fängt nochmal von vorne an. König Hirsch war meine erste Arbeit in Italien. Ich hatte ein Stipendium für drei Jahre und schrieb in dieser Zeit die dreiaktige Oper König Hirsch, die den großen Bruch mit der Strenge darstellt. Da hatte ich genug Zeit, habe jeden Tag geschrieben, bin auch jeden Tag schwimmen gegangen und habe all die Sachen gemacht, die man als junger Mensch machen soll – oder auch nicht machen soll, die habe ich auch gemacht.
Eine Sinfonie kommt nicht mehr?
Ach nein. Nach der Uraufführung der Neunten gab es eine kleine Feier. Da sagte mir Paul Sacher: Es ist unmöglich, mit einer Neunten zu leben, du musst sofort eine Zehnte schreiben. Gesagt, getan. Die Schweizer Bank war großzügig und belohnte mich für meinen abenteuerlichen und wirklichkeitsfremden Fleiß.
Haben Sie je überlegt, wieder nach Deutschland zu ziehen?
Ich bin aus Nordrhein-Westfalen, ich war wieder bei der Triennale dort, das war sehr angenehm, eine Aufführung von erster Qualität, ein angeregtes Publikum, es hat mir sehr gefallen. Aber ich habe 82 Olivenbäume, die ich pflegen muss, zum Beispiel. Ich handle auch mit dem Öl, die Ölmühle ist in Castel Gandolfo, gleich nebenan, zehn Minuten zu Fuß. Es ist sehr schön dort. Ich wohne seit 1966 permanent da, aber noch heute ist es so: Wenn ich ein paar Tage zu Hause war und wieder rauskomme, in eine U-Bahn, ins Verkehrschaos, in ein schönes Konzert, und die Menschen sehe, dann finde ich das alles ganz bezaubernd. Immer noch.