Lahav Shani gehört zu der Sorte Musiker, bei denen man sich fragt, was sie eigentlich sonst geworden wären, wenn sie ihr Glück nicht in den Partituren gefunden hätten. Der junge israelische Dirigent und Pianist wird im Januar gerade mal 29 Jahre alt und durfte sich gleich mal zum jüngsten Pultchef des Rotterdamer Philharmonischen Orchesters wählen lassen. Shani ist bereits seit einigen Jahren kein unbeschriebenes Blatt mehr: An der Berliner Musikhochschule „Hanns Eisler“ ausgebildet, startete er seine internationale Karriere als erster Preisträger des Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbes in Bamberg. Das war 2013. Im Interview erklärt er, warum man vor schnellen Karrieren keine Angst haben muss.
Herr Shani, Sie sind 28, haben schon sehr viel erreicht und werden im nächsten Jahr das ohnehin schon niedrige Durchschnittsalter der Chefdirigenten noch einmal drücken. Macht Ihnen Ihre Karriere manchmal Angst?
Lahav Shani: Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil! Wir Musiker haben doch eine gemeinsame Sprache, und wenn man die versteht, warum sollte man zu jung sein? Ich fühle mich bei den besten Orchestern vollkommen zu Hause. Natürlich sollte man aufpassen, dass man nicht zu viel macht. Und man muss die Zeit finden, sich gut vorzubereiten, um ruhig zu werden. Das ist die beste Grundlage der Arbeit.
Widerspricht ein Leben auf Flughäfen nicht der Kreativität?
Lahav Shani: Wenn man genug Zeit für die Einstudierung hat, ist das alles nur eine Sache der Planung. Besonders in Rotterdam bin ich so glücklich über die Chemie, die so gut stimmt, vor allem zwischenmenschlich. Daraus schöpfe ich viel Inspiration. Es stellen sich ja immer die Fragen zwischen Orchester und Dirigenten: Was wollen wir voneinander? Wie gehen wir miteinander um? Das ist auch eine kulturelle Angelegenheit. Wie ist der Humor? Haben wir die gleichen musikalischen Ziele? Verfolgt man dagegen unterschiedliche Stile, wird es schwer – für ein Orchester und für den Dirigenten. Von der ersten Minute an war klar, dass wir das gleiche wollen, was Klang, Timing, Empfindung und Stil betrifft. Dann sind die Möglichkeiten endlos.
Was, glauben Sie, ist der Vorteil junger Chefs?
Lahav Shani: Für uns ist alles noch frisch, und wir sind voll motiviert. Ich nehme noch nichts als selbstverständlich.
Ist man nicht eifersüchtig auf Gastdirigenten?
Lahav Shani: Es ist unbedingt nötig, viele verschiedene Dirigenten zu holen, um verschiedene Handschriften studieren zu können. Jeder muss für sich überzeugen. Das Orchester muss letztlich entscheiden, mit wem es arbeiten will. Die Rotterdamer Philharmoniker sind in einem fantastischen Zustand, das möchte ich bewahren. Man braucht viel Zeit, um ein Orchester zu prägen. Mein Job ist es, dass sie das nicht vergessen, denn das geht schnell. Wir haben dort einen fantastischen Saal, der vor einigen Jahren aufwändig renoviert worden ist. Jetzt müssen wir prüfen, was klanglich noch optimiert werden kann.
Wie kommt man damit zurecht, schon so früh als Star gehandelt zu werden?
Lahav Shani: Ich habe mein Studium vor vier Jahren abgeschlossen. Meine menschliche Basis war immer stark, und ich bin bis heute sehr loyal geblieben zu meinen alten Freunden. Ich glaube auch nicht, dass man jemand anderes ist, nur weil man jetzt dort vorne steht. Wie andere das sehen, ist ihre Sache, da kann ich nicht viel machen.
Wie hoch ist der Anteil von Fleiß, Glück und guten Mentoren für den Erfolg?
Lahav Shani: Man muss auf jeden Fall ganz viele Proben erleben, auf diese Art hat man ganz viele Mentoren, wenn man daran interessiert ist. Allein in die Hochschule zu gehen, reicht nicht. Da lernt man zwar durchaus einiges, aber nicht das Wesentliche. Gerade in Berlin war ich dauernd in den Proben der großen Meister, dort lernt man das richtige Handwerkszeug, vor allem, wie man mit einem Orchester umgeht.
Würden Sie sagen, das war die beste Schule, die Praxis?
Lahav Shani: Manchmal wichtiger als das Partiturstudium! Und ich fand es damals schade, wie wenige Kommilitonen sich dafür interessiert haben. Die Grundlagen habe ich mir also selbst geschaffen, das Glück kam dazu. Man kann schwer sagen, was passiert wäre, wenn es nicht so gekommen wäre. Irgendeinen Weg muss man ja planen. Der gewonnene Wettbewerb war der Wendepunkt, danach folgten die Einladungen und Engagements. Das ergab sich organisch, und ich war sicher nicht faul.
Dadurch ist Ihr Repertoire sehr umfangreich. Wie verschaffen Sie sich die Zeit für die Erarbeitung?
Lahav Shani: Manchmal muss man sich parallel Programme erarbeiten. Wichtigste Voraussetzung ist eine gute Planung, möglichst zwei bis drei Jahre im Voraus. Auch freie Wochen wie jetzt habe ich schon vorab geplant. Man braucht nämlich auch Zeit nach den Projekten – zum Vergessen. Den Loop muss man loswerden. Dann ruhe ich mich schlicht auf dem Sofa aus, sehe fern, treffe Freunde. Gerade bin ich zum Beispiel in Berlin mit meiner Verlobten. Seit acht Jahren sind wir hier zu Hause.
Glauben Sie an Referenzaufnahmen, oder gehen Sie alle Stücke an, als wären es Uraufführungen?
Lahav Shani: Natürlich soll alles so organisch wie möglich klingen, aber ich muss nicht alles neu erfinden. Wenn ich die Partitur studiert habe und denke, sie verstanden zu haben, höre ich so viele Aufnahmen wie möglich an. Es ist sehr interessant zu wissen, wie andere Dirigenten die gleichen Probleme gelöst haben.
Sind die immer gleichen Stücke denn gesund? Wie museal ist der Musikbetrieb?
Lahav Shani: Kommt darauf an, wo man ist. In Berlin kann man alles Mögliche hören. In anderen Städten ist das vielleicht anders. Das Beste ist, wenn man alles kombinieren kann – Stücke, die man kennt, und Neues. Es gibt viele Menschen, die Neues entdecken wollen. Zum Beispiel habe ich jetzt Kurt Weills zweite Sinfonie auf der ganzen Welt dirigiert, es war immer ein großer Erfolg.
Wie halten Sie es mit der Moderne?
Lahav Shani: Jeder Komponist braucht seine Entwicklung. Dafür muss er auch seine eigenen Stücke hören können. Ich versuche nicht, so viel Zeitgenössisches wie möglich zu machen, sondern orientiere mich an denen, an die ich glaube. Wir diskutieren gerade, welchen Komponisten wir in Rotterdam folgen.
Sie kommen aus Israel und leben in Berlin. Wie beeinflussbar ist man von Wahlergebnissen wie zuletzt die Bundestagswahlen?
Lahav Shani: Ich bin natürlich auch überrascht, und es tut weh, diese Entwicklung in Deutschland und ganz allgemein zu sehen. In den letzten acht Jahren war Berlin für mich exemplarisch, reich an Kultur, Musik, Leben. Ich kann nur hoffen, dass es so bleibt.
Was kann die politische Botschaft von Musik sein?
Lahav Shani: Was mich überhaupt zum Dirigieren gebracht hat, war das Gefühl, dass 100 Leute auf der Bühne das Gleiche denken und die gleichen Impulse haben. Das ist ein ganz starkes menschliches Gefühl. Es ist gut, ein Mensch zu sein. Auf der Bühne sind wir alle gleich wichtig. Musik an sich kann politisch sein, muss es aber nicht. Ihre Schönheit und ihr Gehalt ist der menschliche Ausdruck. In einem Orchester ist die Zusammenarbeit zwischen Menschen ungeachtet ihrer Herkunft das wichtigste Element. Einander zuhören und annehmen. Das ist eine wunderbare Lektion in Humanismus.