Gemeinsam ist man stärker: Die in Berlin lebende Pianistin Elena Bashkirova blüht auf, wenn sie vom Teamgeist bei ihren Festivals erzählt. Als Solistin nimmt sie sich gerne zurück, Kammermusik liegt ihr sowieso viel mehr am Herzen. Einer ihrer Lieblingsorte ist das Mendelssohn-Haus in Leipzig, das auch in diesem Jahr wieder den intimen Rahmen für einige Veranstaltungen der Mendelssohn-Festtage liefert.
2015 starb Kurt Masur, die Mendelssohn-Festtage lagen brach. 2021 wagten Sie als künstlerische Leiterin und Präsidentin der Stiftung einen Neuanfang. Was waren die größten Herausforderungen?
Elena Bashkirova: Wir starteten mit dem Festival in der Coronazeit, aber die Vorbereitungen liefen ja schon lange vorher. Ich hatte keine großen Probleme, denn nach Masur war ja alles neu. Es ging nicht darum, im Programm hier ein bisschen mehr und dort ein bisschen weniger zu machen. Sondern alles neu zu gestalten. Es ging mir vor allem darum, namhafte internationale Künstler nach Leipzig zu holen, mehr Glanz und Öffnung in die Festtage zu bringen.
Dabei haben Ihnen sicher auch die Erfahrungen bei den beiden anderen Festivals geholfen, die Sie seit vielen Jahren leiten.
Bashkirova: Ja, natürlich. Das Jerusalem Chamber Music Festival habe ich 1998 gegründet, Intonations im Jüdischen Museum Berlin kam 2012 dazu. Wir Künstler sind eine große Familie. Und in Leipzig kamen viele neue Freunde dazu. Ich habe sofort festgestellt: Wir können viel mehr bei den Mendelssohn-Festtagen machen. Mit dem Mendelssohn-Haus, dem angrenzenden Gartenhaus und dem Gewandhaus haben wir ganz verschiedene Aufführungsorte zur Verfügung, die wir mit unterschiedlichen Formaten mit Leben füllen können: kammermusikalisch, als Gesprächskonzert, als Führung, aber auch sinfonisch im Großen Saal.
Der Musiksalon in Mendelssohns ehemaligem Wohn- und Sterbehaus scheint Ihnen dabei sehr ans Herz gewachsen zu sein. Das ist eine eher intime und exklusive Sache.
Bashkirova: Der Salon fasst etwa sechzig Menschen. Das ist kammermusikalisch nahezu perfekt. Im Gartenhaus finden etwas mehr als hundert Leute Platz. Wenn Besucher zum ersten Mal das Haus betreten, merken sie sofort, dass dies ein ganz besonderer Ort ist. Hier hat Mendelssohn gelebt und gearbeitet, hier hat er regelmäßig Gäste empfangen. Dichter, Schriftsteller, Philosophen, Musiker: Die Mendelssohns waren eine sehr gastfreundliche Familie. Man hat sich ausgetauscht, diskutiert, getrunken, gelacht. Manche Leute sagen: Ich möchte diese Dielen küssen! Dabei ist die Wohnung recht normal. Zwar groß, aber überhaupt nicht protzig. Sie hat menschliche Dimensionen.
Mendelssohn fasziniert Sie nicht nur als Musiker, sondern auch als Mensch.
Bashkirova: Ja. Er ist einer der Persönlichkeiten, die ich unbedingt gerne einmal getroffen hätte. Wissen Sie, es gibt Komponisten, die man gerne spielt. Aber würde man sie auch gerne in natura erleben? Würde ich mit diesem Menschen gerne meine Ferien verbringen? Da steht Mendelssohn bei mir so ziemlich an erster Stelle. Vielleicht auch Mozart, aber mit ihm würde der Urlaub eventuell etwas wilder ausfallen (lacht). Mendelssohn war großzügig, europäisch gebildet, er reiste viel und konnte auch selbstkritisch auf sich blicken.
Welche dieser Eigenschaften können wir heute am dringendsten gebrauchen?
Bashkirova: Die Bildung! Darauf fußt alles. Auch kulturelle Bildung, nicht nur Musik. Man sollte andere Kulturen kennenlernen, andere Mentalitäten, geschichtliche Zusammenhänge verstehen, Literatur entdecken und ins Theater gehen. Damit man nicht nur in seiner eigenen Suppe schwimmt. Wenn ein Pianist zum Beispiel ein Stück von Mozart spielt und noch nie eine Oper von ihm gehört hat – das wird eine langweilige Interpretation sein. Interesse und Neugierde sind wichtig, man kann nie früh genug damit anfangen, das zu wecken. Wir haben heute doch so viele Möglichkeiten! Und Großzügigkeit ist enorm wichtig. Das ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft und hat nichts mit Geld zu tun, sondern mit Zeit, die man anderen Menschen widmet, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Es geht um das Geben, nicht das Nehmen.
Das scheint gerade das Problem der heutigen jungen Menschen zu sein.
Bashkirova: Ganz genau. Das Problem ist, dass viele sehr selbstbezogen sind. Wie oft sieht man junge Menschen in Museen, die nicht die Kunstwerke fotografieren, sondern sich selbst. Ich nenne das die Selfie-Gesellschaft. Sie haben die größten Möglichkeiten, beschäftigen sich aber nur mit ihrem Smartphone und sich selbst. Ich finde das traurig. Und das macht mir Sorgen. Ohne eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Kunst und einer lebhaften Diskussion würde ich mich sehr einsam fühlen.
Es gibt eine Form von Einsamkeit, die nicht unbedingt selbst gewählt ist, die aber jeder Künstler kennt. Stichwort: Konzertreisen.
Bashkirova: Ja, das stimmt. Dabei reise ich gar nicht so viel wie andere Pianisten, spiele auch eher kammermusikalisch im kleinen Kreis als auf ausgedehnte Tourneen zu gehen. Das ist immer anstrengend und kostet Kraft. Nach dem Konzert gehe ich gerne mit Kollegen ins Restaurant, aber nie alleine. Wenn das aber nicht geht, bleibt nur das Hotel und die Minibar im Zimmer. Oder, wie ich gerne sage: Mein Symbol für Einsamkeit sind Erdnüsse.
In diesem Jahr haben Sie für Leipzig auch Komponisten wie Erwin Schulhoff oder Viktor Ullmann ausgewählt, die man als „verfemt“ bezeichnet: verfolgte, geflüchtete oder ermordete Komponisten des Nazi-Regimes. Ein Kommentar mit Gegenwartsbezug?
Bashkirova: Sie waren alle noch so jung, hätten noch so viel schreiben können! Es war eine großartige Generation von Komponisten, die plötzlich nicht mehr da war. So entstand ein riesiges Loch in der Musikgeschichte. Zum Glück werden sie heute häufiger gespielt als unmittelbar nach 1945, wo man sie einfach vergaß. Dabei haben sie die mitteleuropäische Musik ihrer Zeit stark geprägt und waren äußerst vielseitig. Sie haben mit Elementen des aufregend neuen Jazz gespielt, große Opern wie auch kleine Kabinettstückchen geschrieben. Die gesamte Intelligenzija des jüdischen Künstlertums in Prag: weg. Deshalb habe ich auch Gideon Klein in ein Programm aufgenommen, das ich im November zusammen mit dem Jerusalem Chamber Music Festival Ensemble in der Dresdner Frauenkirche gestalte.
Sie leiten insgesamt drei Festivals. Was sind Ihre Wünsche für die Zukunft?
Bashkirova: Jerusalem, Leipzig und Berlin sind sozusagen meine drei Spielbeine, die ich nicht missen möchte. Die stehen gut da. Aber um bei der Metapher zu bleiben: Die Beine brauchen auch eine stabile Muskulatur und eine gute Pflege. Was ich mir wünsche, wäre zum einen eine bessere finanzielle Unterstützung in und für Leipzig. Die vielen befreundeten Künstler kommen sicher nicht wegen des Geldes zum Festival, sondern mögen die inspirierende Atmosphäre, die Stadt und das Publikum. Aber das Budget ist tatsächlich zu schmal, um große Sprünge zu machen. Wir sprechen nicht von riesigen Summen, ganz bestimmt nicht.
Und für Berlin wünsche ich mir, nachdem wir jetzt im Kühlhaus am Gleisdreieck heimisch geworden sind, dass dieser wunderbare Spielort noch viel bekannter wird. Es ist ein umgebauter historischer Industriebau, der etwas versteckt liegt, aber eine phantastische Akustik hat. Und er kann sehr vielseitig auf verschiedenen Ebenen bespielt werden. Für das Kühlhaus wünsche ich mir mehr Aufmerksamkeit, auch von Seiten der Medien.