Ihre erste Spielzeit neigt sich ihrem Ende entgegen. Wie fällt Ihr Fazit aus?
Fabrice Bollon: Es ist noch viel schöner, als ich es erwartet hatte, weil die Arbeit mit dem Orchester, dem Ensemble und den anderen Direktoren sehr konstruktiv ist und viele Früchte trägt. In der Vergangenheit hatte es leider viele Querelen im Direktorium gegeben, das hinterlässt Spuren nach innen wie außen. Natürlich ist sehr viel zu tun, aber die Arbeit lohnt sich und die Arbeitsatmosphäre stimmt perfekt.
Ist Halle so ein spezielles Pflaster?
Bollon: Es kommt überall darauf an, wie viel man investieren will – dienstlich wie privat. Generell gilt: Wenn Sie als Generalmusikdirektor nur zum Dirigieren kommen und wieder abziehen, wird das nicht funktionieren. Denn Sie senden den Mitarbeitern schnell das Signal: Er oder sie hat keine Lust auf uns.
Wie beschreiben Sie die Staatskapelle einem Gastdirigenten, den Sie engagieren wollen?
Bollon: Wer hierher kommt, ist immer sehr glücklich. Ich arbeite sehr gern mit Musikern, mit denen man schnell ein gutes Ergebnis erreicht und die Motivation schnell herauskitzelt. Das ist hier deswegen besonders schön, obwohl das Orchester eine ganze Reihe von Verletzungen mit sich herumschleppt, die aus der Fusion 2006 herrühren. Sich als Musiker in dieser Situation zu motivieren, ist keine leichte Sache. Derzeit wollen wir neue Wege hinsichtlich der historischen Aufführungspraxis gehen – nicht nur mit dem Händelfestspielorchester. Dafür gibt es eine große Bereitschaft im Orchester – und das bei Menschen, die zum Teil weit über fünfzig Jahre alt sind. Das bedeutet ja immer, sich in Frage zu stellen und neue Dinge zu lernen. Da gibt es keinen Gegenwind.
Die Folge solcher Fusionen ist ja immer ein Generationenproblem, weil aufgrund der Sozialpläne die alten Kollegen übrigbleiben und keine neuen dazukommen.
Bollon: Die seelischen Verletzungen der Fusion sind noch da. Es braucht nicht viel, dass aufgebautes Vertrauen wieder kippt. Wenn Sie als Musiker an die Struktur, in der Sie arbeiten, nicht mehr glauben, verlieren Sie die Motivation. Sie machen schnell Dienst nach Vorschrift. Eine Fusion reduziert die Menschen aufs Geldverdienen. Man musiziert aber nicht dafür, sondern aus Liebe zur Musik. Jetzt ist es wichtig, dass es eine Regeneration gibt, und inzwischen haben wir einige Stellen nachbesetzen können, was auch die älteren Kollegen automatisch mit verjüngt.
Hat die Pandemie für eine kulturelle Entwöhnung gesorgt?
Bollon: Nicht die Pandemie selbst, sondern die Panik, in der die Politik mit der Pandemie umgegangen ist. Die Kulturszene hat sich damals leider damit arrangiert, und die Ergebnisse sind jetzt überall gleich schwierig. In Halle geht es schrittweise wieder los, die Konzerte sind zu drei Vierteln und mehr ausgelastet, das Ballett läuft super, und mittlerweile ist es in der Oper richtig gut.
Wie schaffen Sie so den Weg ins 21. Jahrhundert?
Bollon: Ich bin guter Dinge, und das Publikum ist immer noch begeisterungsfähig. Aber bei Konzerten verkaufen sich jetzt die meisten Karten in den letzten Tagen. Die Entscheidungen zum Kulturbesuch fallen überall kurzfristiger. Darauf reagieren wir zum Beispiel mit neuen Abos und Vertriebsmöglichkeiten. Das Kulturgeschäft ist nicht tot, die Menschen wollen kommen, aber man muss sie aufwändiger locken.
Sie kommen aus Frankreich und haben vielfältige Erfahrungen aus Freiburg. Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere an der deutschen Kulturlandschaft?
Bollon: Die Theaterorganisation unter einem Dach macht, dass man künstlerisch sehr viel in sehr kurzer Zeit erreichen kann. In Frankreich sind die Orchester und Sänger meist gar kein Teil des Opernhauses, sondern nur zu Gast. Wenn Sie dann nur zehn Vorstellungen angesetzt haben, obwohl Sie fünfzehn verkaufen könnten, haben Sie Pech. Im kulturellen deutschen Flächenland können Sie viel flexibler das Repertoire bedienen. In Frankreich gibt es 45 Orchester für 68 Millionen Einwohner, in Deutschland sind es 128 Orchester für nicht mal 85 Millionen Einwohner. Das ermöglicht einen tatsächlichen Zugang zu Kultur.
Hat Kultur irgendwann ein Legitimationsproblem?
Bollon: Das sind Scheindebatten. Denn Kultur macht uns aus, seit wir keine Tiere mehr sind. Sie ist kein Luxus, sondern ein ganz normaler Teil des Lebens. Wenn die Politik nur darüber lamentiert, dass Kultur zu viel koste und niemanden interessiere, hat sie damit nicht nur Unrecht, sondern ist selbst an ihrem Auftrag gescheitert, Partizipation zu ermöglichen. Auch in früheren Gesellschaften musste immer erst erlernt werden, zusammen zu tanzen oder zu beten. Auch ein Klavierkonzert anzuhören muss man lernen. Das ist eine kollektive Verantwortung. Wenn wir alles in Geld messen, hat alles keinen Sinn mehr. Geld ist nur ein Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation, kein Selbstzweck.
Sie sind bekannt für Ihre Experimente mit unbekanntem Repertoire, etwa Wolf-Ferrari, Goldmark oder Magnard. Können Sie sich das gerade leisten?
Bollon: Ich will dahin zurück, weil die Musikgeschichte in meinen Augen sehr unfair ist. Viele große Werke unbekannter Komponisten meidet man; dafür werden manche Stücke berühmter Namen gespielt, obwohl sie die Mühe nicht wert sind. Das habe ich immer versucht zu brechen. Aber damit müssen wir behutsam vorangehen, weil wir erst die postpandemische Zeit zu überwinden haben.
Also erstmal Kassenschlager, um irgendwann auf Unbekanntes zurückzukommen?
Bollon: Das wäre mir zu krass formuliert, aber zu viele Experimente können wir uns im Moment wirklich nicht leisten. Trotzdem setze ich auf jedes Programm ein unbekanntes Stück. Aber Politik und Publikum verlangen von uns sicher zu Recht, dass wir zuerst die Auslastung wieder auf Normalniveau bekommen.
Sie komponieren auch selbst. Haben Sie dafür noch Zeit?
Bollon: Ich schaffe sie mir, aber zurzeit schreibe ich nicht viel. Im September werde ich in Heilbronn ein Klavierkonzert uraufführen. Nächste Spielzeit feiert das Puppentheater in Halle seinen 70. Geburtstag, wofür ich auch ein Stück für Tuba solo – Andreas Hofmeier wird spielen und sprechen – und Orchester komponiere. Aber wir spielen so wenige lebende Komponisten, da will ich mich nicht vordrängen.