Der 1970 in Ankara geborene Pianist und Komponist ist bekannt für ungewöhnliche Programme und unkonventionelle Interpretationen. Ab 1987 studierte er fünf Jahre in Düsseldorf und drei Jahre an der UdK Berlin, dann zog es ihn nach New York. Heute lebt er in Istanbul.
Herr Say, sehen Sie sich als Grenzgänger zwischen Klassik und Jazz?
Nein, ich bin Komponist und klassischer Pianist, ich spiele geschriebene Stücke.
Ist auch Black Earth, das Sie gern als Zugabe spielen, durchkomponiert?
Ja, das ist klassische Musik. Es ist als Zugabe gedacht, aber es passt auch gut auf Jazz-Festivals.
Es herrscht große Unsicherheit über die Zukunft der klassischen Musik. Werden die Grenzen zwischen Klassik, Jazz und Weltmusik verschwimmen?
Die Sorgen kommen zum einen daher, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Verbindungen zwischen Publikum und Komponisten teilweise abgebrochen sind. Zum anderen sind um das Jahr 2000 herum die CD-Verkäufe eingebrochen. Und es gibt weniger Kultur in den Medien. Ich denke, das wird sich ändern mit der Kreativität der Künstler, der Festivals und der Orchester. Weil die Verantwortlichen sich Sorgen machen, entwickeln sie Ideen. Am Konzerthaus gibt es zum Beispiel eine Website für kleine Kinder, so etwas hat man früher nicht gebraucht. Vor ein paar Jahren hatte auch ich große Sorgen, jetzt nicht mehr. Es tut sich sehr viel. Man muss sehen, dass die Welt klein geworden ist. Wir haben Orchester aus Venezuela, Geiger aus Japan und Moldawien, Pianisten aus China und der Türkei. Die Klassik ist nicht mehr nur eine mitteleuropäische Kultur. 500 Jahre Entwicklung in Mitteleuropa sind natürlich prägend, aber es ist inzwischen eine weltweite Kultur. Und die einzelnen Kulturen aus den einzelnen Ländern wollen natürlich mitmischen und sich etablieren. Die nächsten zehn, zwanzig Jahre werden dadurch bestimmt sein, dass Europa durch die klassische Musik andere Kulturen kennenlernt.
Wird man weiterhin in den Kategorien Klassische Musik, Jazz, Pop usw. denken?
Diese A-, E-, O- und U-Musik – das ist alles Quatsch. Der größte Pianist der letzten zwanzig Jahre ist für mich Keith Jarrett, egal ob er Klassik spielt oder improvisiert, er singt auf dem Klavier so wie Horowitz oder Michelangeli. Wie soll ich ihn kategorisieren? Gut, er gehört nicht in die Stockhausen/Henze-Schublade, aber das ist auch egal. Es gibt heute viel mehr Schubladen in der Musik, auch in der klassischen Musik. Man muss Neugier und positive Energie haben, um die alle kennenzulernen. Und gute Künstler präsentieren gute Kunst. Das wird sich nie ändern.
Spielen Sie ein Stück wie Black Earth so, wie Sie einmal notiert haben, oder nehmen Sie sich mehr Freiheiten?
Ich nehme mir so viele Freiheiten wie in einer Beethoven-Sonate. Die mache ich auch jeden Tag anders. Ich bin hundertprozentig treu zum Notentext. Aber die Noten machen nur 20 Prozent der Musik aus. Die Umgebung, die Akustik, meine Seelenlage, all das ist jeden Abend anders.
Stellt man nicht ein eigenes Stück immer wieder auch in Frage, wenn man es spielt?
Wissen Sie, man ist nie zufrieden. Vor allem wenn man für Orchester schreibt. Ich höre mein Werk ja nicht vor der ersten Probe. Es sind alles nur Vermutungen im Kopf, wie es klingen könnte, aber diese 95-prozentige Sicherheit genügt.
Ist Klavierspielen und Komponieren bei Ihnen gleichberechtigt?
Ja. Ich komponiere und improvisiere, seit ich fünf Jahre alt bin. Das ist meine Natur. Ich habe mich auch nie gefragt, warum das so ist. Es ist eben so.
Furtwängler hat immer geklagt, er habe so viel andere Musik im Kopf, dass er nicht zu seiner eigenen Musik komme.
Es ist seit meinem fünften Lebensjahr so, dass ich Beethoven und Mozart spiele und meine eigene Musik. Ich komponiere jeden Tag. Ich habe das nie schwer gefunden, das ist von allein gekommen. Aber wenn man ein sehr großes Werk, eine Sinfonie oder eine Oper komponiert, ist es besser, wenn man sich Zeit nimmt, wenn man nicht jeden Monat acht, neun andere Konzerte hat, Duo mit Kopatchinskaja, Klavierabend, Ravel-Konzert hier, Gershwin da. Ich habe auch Phasen, in denen ich drei, vier Wochen lang kein Konzert gebe. Dann kann ich in Ruhe komponieren. Man möchte es ja gut machen und nicht nur irgendwas abliefern. Komponieren, das sind in der Einsamkeit entstehende Hochgefühle, deshalb kann man auch in einem Hotelzimmer eine großartige Idee finden. Manchmal ist das Trinken hilfreich, manchmal zerstörend, manchmal ist ein Päckchen Zigaretten gut, manchmal ganz falsch. Das weiß man nie. Auch eine Probe mit einem Mozart-Klavierkonzert kann einen inspirieren oder zumindest motivieren.
Wie komponieren Sie?
Per Hand, nicht am Computer. Manchmal am Klavier, manchmal nicht. Eine Orchestrierung muss man im Kopf hören.
Das heißt, Sie sitzen im Café oder im Flughafen mit einem Notizbuch?
Ja, ich habe meine Notizbücher immer bei mir, aber eine gute Idee vergisst man nicht. Die schlechten vergisst man, die guten Ideen bleiben.
Mit welchem Anspruch gehen Sie in einen Konzertabend?
Jedes Konzert bedeutet für mich eine Uraufführung. Egal was ich spiele. Ich kann nicht für jeden Abend etwas Neues lernen. Liszts h-Moll-Sonate oder die Bilder einer Ausstellung habe ich über 100 Mal gespielt, aber in jedem Konzert ist es wie eine Uraufführung. Das ist meine Motivation. Das ist manchmal radikal, und es kann passieren, dass es einigen Musikliebhabern im Publikum nicht gefällt. Oder wenn ich etwas riskiere, wenn ich in der h-Moll-Sonate die Oktavstelle mal viel langsamer oder schneller nehme, dann kann etwas schiefgehen. Obwohl ich das normalerweise technisch kann. Aber dieses Risiko ist mein Spaß. Ich will jedes Stück neu entdecken, improvisatorisch sein beim Interpretieren.
Besuchen Sie Konzerte anderer Pianisten?
Es gibt nur wenige Pianisten, in deren Rezital ich gehen kann. Die meisten finde ich unerträglich. Das ist mein Problem. Ich höre Orchesterkonzerte und Oper, ich liebe Sänger. Ein Pianist muss Sänger im Kopf haben. Horowitz sagte immer: Das Klavier ist ein Perkussionsinstrument, das man zum Singen bringen muss. Alle Pianisten lieben Sänger, intuitiv. Am besten ist es im Konzert, wenn man etwas zum ersten Mal hört.
Haben Sie immer Musik im Kopf?
Ja, klar. Wie ein Radio. Aber das ist nicht störend.