Von existenziellen Erfahrungen ist schnell die Rede, wenn Christian Tetzlaff vertraute Stücke spielt, ohne sich um fragwürdige Aufführungstraditionen zu kümmern. Sein Auftrag ist die Intention des Komponisten – und was so selbstverständlich klingt, ist es leider nicht. Im Interview spricht der weltweit berühmte Geiger über die Botschaften der Werke, die Krux der Ausbildung und die Freude am Erzählen von Geschichten mit der Musik.
Sie gehören zu denjenigen Musikern, die so arriviert sind, dass sie es nicht nötig haben, besondere Diven zu sein. Sind Sie eitel?
Christian Tetzlaff: Mir ist das, was ich tue, so wichtig, und ich bin den Komponisten und dem, was sie uns mitteilen, so nah, dass ich mich dort in der Funktion sehe, ihre Geschichten so authentisch wie möglich zu erzählen und das Publikum damit anzurühren. Diese Funktion schließt Eitelkeit aus, aber ich glaube schon, dass ich sie gut erfülle.
Verschwinden Sie hinter dem Komponisten?
Tetzlaff: Nein, gerade nicht! Ich gehe in dem Komponisten vollständig auf und vermittle mit meinen Ausdrucksmitteln seine Botschaften. Wenn ich das Beethovenkonzert spielen darf, erzähle ich von einer Glückseligkeit und Verzweiflung, die ich verbal oder wenn ich selbst etwas auf der Geige erfinden müsste, gar nicht darstellen könnte.
Sie werden mit ihm eins, wenn Sie glauben, ihn verstanden zu haben.
Tetzlaff: Leider ist Trance ein durch die Meditation so stark besetzter Begriff. Aber ich komme in einen Zustand, in dem ich sehr frei erzählen und die Herzen erreichen kann. Für mich wird der Konzertsaal immer mehr zu einem heiligen Ort, wo zwischen dem Publikum und mir etwas ganz Besonderes passieren darf.
Erzählen Sie dann von Beethoven oder von sich selbst oder beides?
Tetzlaff: Auch Beethoven erzählt nicht nur von sich. Er will unbedingt kommunizieren und sich öffnen, was ihm in seinem wirklichen Leben sehr schwer gefallen ist. So erzählt er von höheren Dingen, die mit Worten nicht mehr zu beschreiben sind. Vielen Komponisten geht es um universale Wahrheiten der menschlichen Seele. Im Entstehungsprozess ihrer Musik hatten sie das Gefühl, ihnen wird etwas eingegeben, vielleicht sogar mitgeteilt aus einem kollektiven Unterbewusstsein. Sonst wäre es auch gar nicht universell verständlich. Wenn ich mit Bach zu Grundschülern gehe, haben sie sofort die gleichen Assoziationen zur Musik wie ich. Sitze ich im Konzertsaal, geht die Musik ganz oft über das Alltägliche hinaus. Und für diese Momente machen wir das ganze ja.
Da sind Sie ein Anachronist. Diese Innerlichkeit ist nicht gerade en vogue.
Tetzlaff: Unsere Musik muss nicht anders verkauft oder irgendwie „gängig“ gemacht werden. Es braucht nur engagierte Musiker, die in dem, was sie tun, aufgehen, um dem Publikum all das zu geben, was in der Musik drinsteckt, denn dazu gehört ja viel mehr als die bloße Realisierung des Notentextes. Für mich haben sich die großen Werke ebenso wie die menschliche Seele nach 200 Jahren nicht plötzlich verändert. So kann auch alte Musik noch aktuell sein, ohne irgendwie angepasst werden zu müssen.
Sie haben gerade mit Ihrer Schwester Tanja und Lars Vogt Klaviertrios von Dvořák veröffentlicht. Wie haben Sie sich den Terminus „Referenzeinspielung“ verdient?
Tetzlaff: In einer Rezension heißt es, die Aufnahme klinge so, als ob sie aus Liebe geboren worden wäre. Damit einher geht aber auch eine Achtung vor diesem herrlichen Menschen. Wie immer versuchten wir, ihm ganz nah zu sein, weil man nur dann zu den exzessiven Gefühlen kommt, die er ausdrücken wollte. Wenn wir nur das spielen, was wir am besten können oder wovon wir selbst überzeugt sind, verlieren wir die ungewöhnlichen Seiten einer Komposition. Immer wieder kommen Studenten auch bei simpel zu lesenden Stücken mit irgendwelchen alten Ausgaben berühmter Geiger oder Lehrer zu mir und haben noch nie in der Partitur nachgesehen, was in den anderen Stimmen steht. Da müsste sofort auffallen, dass alle fremden Zutaten überflüssig und sogar falsch sind. Aber solche blödsinnigen Traditionen sind weit verbreitet. Es wird viel zu oft einfach nur gegeigt. Das ist für die klassische Musik gefährlich. Dabei ist Interpretation doch kein Hexenwerk! Was mich am meisten wurmt, ist, dass es eigentlich so einfach ist.
Warum wird dann so viel dumm gespielt?
Tetzlaff: Das Publikum liebt in der Musik wie in der Politik das Gefühl von Stärke und Verlässlichkeit. Wenn Sie Jahrzehnte durchhalten wollen, brauchen Sie eine dicke Haut. Aber genau die ist für das Musizieren das Schlimmste. Das Ideal von sicheren, kräftigen Strichen, schönem durchgehenden Vibrato, warmem Ton und viel Forte suggeriert Unverwundbarkeit. Das ist, was bewundert wird, für mich aber eine Untugend ist.
Hören Sie hier einen Ausschnitt aus Brahms‘ Violinkonzert mit Christian Tetzlaff: