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Interview Georg Christoph Biller

„Das eigentliche Problem sind die Mädels“

Warum der Thomaskantor Georg Christoph Biller nicht unter dem Schatten Bachs leidet

vonArnt Cobbers,

Im Jahr 2012 wird der Leipziger Thomanerchor 800 Jahre alt. Geleitet wird er seit 1992 vom 16. Nachfolger Johann Sebastian Bachs, Georg Christoph Biller.

Herr Biller, was ist und was macht ein Thomaskantor?

Das Amt ist sehr traditionsreich, das gibt es immerhin seit 1212 und wurde auch einmal von Johann Sebastian Bach bekleidet. Für ihn war es eine Herausforderung auf dem Wege zur regulierten Kirchenmusik, wie er sich ausgedrückt hat. Dass er es mit verschiedenen Engpässen zu tun hatte, liegt an dieser Konstellation, das ist noch heute so: Man ist nicht nur Künstler, sondern hat mit Finanzen, Erziehung und vielen anderen Dingen zu tun. Nur dass ich nicht mehr Latein unterrichten muss wie Bach, der sich darin ja vertreten ließ – Gott sei Dank. Hätte er alle diese Pflichten ernster genommen, wäre vieles nicht komponiert worden.

Wie umfangreich ist das Amt?

Ich bin der Verantwortliche für den Thomanerchor und war bis vor kurzem auch der Gesamtleiter des Alumnats, d.h. des Internats der Thomaner. Aber das wollte ich nicht mehr, das haben wir jetzt geändert. Darüberhinaus bin ich in die Bach-Aktivitäten der Stadt Leipzig eingebunden.

Sie waren ja selbst als Schüler im Thomanerchor. War das der normale Weg eines musikinteressierten Pastorensohns aus Nebra, also dem weiteren Umfeld von Leipzig?

Die beiden berühmten Knabenchöre in Leipzig und Dresden waren sehr von Pastoren- und Ärztesöhnen dominiert, auch weil sie die Garantie boten, dass der Knabe in die erweiterte Oberschule kommt. In der Provinz sagte oft ein roter Fürst: Der Pfarrersohn kommt da nicht hin! Das gab es in Leipzig nicht, hier hatte die Partei ihre Hand drauf und sagte: Das ist kulturelles Erbe und wird gepflegt.

Wann sind Sie in den Chor gekommen?

Mit zehn Jahren. In der vierten Klasse wird man aufgenommen – das ist auch heute noch so. Obwohl der immer zeitigere Beginn des Stimmbruchs uns nachdenken lässt, ob wir die Schüler nicht früher aufnehmen sollen. Aber eigentlich ist diese anspruchsvolle Arbeit geistig von Jüngeren nicht zu leisten.

Sie wurden dann Chorpräfekt – eine Art Hilfsdirigent wie zu Bachs Zeiten?

Ja, es gibt noch sehr vieles von dem, was damals üblich war. Traditionen und Traditiönchen werden hier groß geschrieben, wobei man darauf achten muss, dass Tradition nicht Selbstzweck wird.

War das eine Vorentscheidung fürs Dirigentenleben? Keimte da schon der Wunsch auf, Thomaskantor zu werden?

Dieses Bild war früh in mir, und komischerweise hatten es auch andere, ich schien zu passen, obwohl sich viele Thomaner sagen: Was der da vorn macht, das würde ich auch gerne machen. Das verflüchtigt sich meist wieder – es werden gar nicht viele Thomaner Musiker. Früher wurden viele Theologen und Mediziner, heute ist es bunter gemischt. Aber natürlich ist dies eine gute Vorbereitung für einige Musikerberufe, weil man, wenn man Augen und Ohren aufsperrt, viel davon mitbekommt, wie man eine Gemeinschaft zum Singen bringt.

Warum haben Sie dann Orchesterleitung bei Rolf Reuter und Kurt Masur studiert?

Ich hatte ja von Kindesbeinen an Chorerfahrung. Da habe ich mir gesagt: Du musst was machen, was du noch nicht kennst. Und das war auch richtig. Allein die Literatur, die ich da kennengelernt habe – Rolf Reuter war ein passionierter Wagnerianer, das ist einem Pastorenhaushalt natürlich ganz fern. So habe ich Wagner kennen- und irgendwann sogar lieben gelernt. Auch das professionelle Dirigieren habe ich da gelernt, und ich versuche auch heute als Lehrer an der Hochschule zu vermitteln: Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen Orchester- und Chordirigieren, auch wenn viele etwas anderes behaupten. Wer dirigieren kann, kann auch einen Chor dirigieren. Dass Orchesterdirigenten mit einem Chor nicht umgehen können und nicht wissen, warum manches nicht klappt – und umgekehrt –, hat nichts mit der Schlagtechnik zu tun. Ein Chor braucht sehr viel mehr Proben, und so hat sich ein spezielles Chordirigieren herausgebildet.

Sie waren Leiter des Gewandhauschores und Dozent in Detmold und Frankfurt/Main, als Sie 1992 Thomaskantor wurden. Wurden Sie berufen oder hatten Sie sich beworben?

Früher wurde der Kantor einfach von der Stadt Leipzig berufen. 1992 hat man drei Kandidaten eingeladen, und in der zweiten Runde wurde ich gewählt. Mein Vertrag ist unbefristet, anders geht es gar nicht bei einem Knabenchor, wo man mit Verständnis und viel Geduld arbeiten muss.

Sind Sie auch in die Thomasschule eingebunden?

Als Thomaskantor nicht. Alle Sänger sind Schüler der Thomasschule, das ist eine normale Schule, die eine Sonderstellung hat wegen des Chores und weil Latein und fakultativ Griechisch gegeben werden. Aber wir sind als Alumnat getrennt von der Schule. Es gibt einzelne Leipziger Chorschüler der 4. und 5. Klasse, die zu Hause schlafen dürfen. Die älteren Thomaner müssen ins Alumnat, weil bei uns jeder viel Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen muss. Im Alumnat sind ungefähr 90 Schüler.

Kann man mit Kindern und Jugendlichen auf dem Niveau Musik machen, das Ihnen vorschwebt? Oder bereiten Ihnen die Kompromisse oft Bauchgrimmen?

Es verursacht manchmal Bauchgrimmen. Meine Position ist schwierig, denn das Ergebnis muss allwöchentlich professionell sein. Das zu erreichen, erfordert Geduld und Ungeduld – beides. Wenn Sie neu aufgenommene Thomaner in der Probe hören, würden Sie zweifeln, dass man da zu einem Ergebnis kommt. Aber das learning-by-doing-Prinzip ist hier ein besonders wichtiges.

Beneiden Sie manchmal Ihre Kollegen wie John Eliot Gardiner oder Ton Koopman, die Bach mit ihren Profi-Chören aufführen können?

Manchmal schon. Vor allem, weil die nicht so viel anderes nebenher bewältigen müssen. Ich muss ja auf sehr vieles eingehen, was nicht unmittelbar auf die Musik einwirkt. Auf der anderen Seite ist man hier aber so geerdet, man hat immer wieder schöne Erlebnisse mit den Kindern. Und ein Knabenchor hat auch musikalisch eine ganz besondere Qualität: dieses Gerade-Singen, dieses Unschuldige – wobei die überhaupt nicht unschuldig sind, das sind Rowdies –, aber sie singen so klar, wie es mit Erwachsenen nicht zu erreichen ist. Hinzu kommen die Sopranhöhen: Mein Bruder zum Beispiel ist Kantor in Quedlinburg, und er wollte dort das Misere von Allegri aufführen, in dem fünfmal das hohe c als freier Einsatz vorkommt. Die professionellen Sopranistinnen haben sich das nicht zugetraut, und nun singt es ein Thomaner. Immer Probleme bereitet der Alt, denn da sind viele drin, die kurz vor dem Stimmwechsel stehen. Da geht dann plötzlich gar nichts mehr. Zudem haben sie noch mit ihrer Pubertät zu kämpfen und ganz anderes im Kopf. Gerade gestern wollte einer dispensiert, d.h. von der Chorarbeit freigestellt werden, dabei ist er noch gar nicht so weit, das merkt man. Das eigentliche Problem sind die Mädels in seiner Klasse, in der es eben schon Bässe gibt – das hat er dann auch zugegeben. Ich habe ihn trotzdem dispensiert. Er war zufrieden, ich nicht …

Ist die dauernde Fluktuation nicht frustrierend?

Zuweilen schon, natürlich. Hinzu kommt die viele Geduld, die man braucht, Dinge immer und immer wieder durchzunehmen. Aber es ist auch eine Chance. Es kommen gute Leute nach, wenn die Zahlen auch überschaubar geworden sind.

Haben Sie jemals ein Interview geführt, ohne dass der Name Bach gefallen ist?

Nein. Aber man kann über Bach immer wieder reden und nachdenken, Bach ist so vielfältig und unergründlich.

Ist er nicht auch der Riese, der immer hinter einem steht?

Damit muss man leben. Ich habe z.B. mit meiner Frau, der Schauspielerin Ute Loeck, ein Programm „Chansonettes mit Bach“ erarbeitet: Die Chansonette stellt fest, ihr Pianist ist mit einer anderen durchgebrannt, und schickt per SMS einen Notruf an den Himmel. Und von dort wird Bach runtergeschickt, um ihr zu helfen – den spiele ich. Es gibt sicherlich Leute, die denken, dass der Thomaskantor nicht so mit Bach umgehen dürfte. Aber das ist mir wurscht.

Wie frei sind Sie beim Programmieren?

Wir sind liturgisch gebunden – und an Bach. Das ist eine schöne goldene Kette. Wir machen jede Woche eine Bach-Kantate, auch die Motetten kommen natürlich regelmäßig aufs Programm, aber ich bemühe mich darum, das gesamte Spektrum der Chorgeschichte abzudecken. Wir singen die alten Meister vor Bach, wir singen Mendelssohn und Wagner, und wir machen viele Uraufführungen, in dieser Saison von Sofia Gubaidulina, Hans Werner Henze, Heinz Holliger und Brett Dean.

Als Thomaskantor sind Sie einer der drei Dirigenten des Gewandhausorchesters. Spannen die Musiker in der Thomaskirche auch mal Darmsaiten auf?

Ich habe am Anfang sehr darauf gedrängt, dass wir historische Instrumente brauchen, aber da habe ich mich dusslig geredet, und seitdem lasse ich das unberührt. Verschiedenes ginge besser mit Barockinstrumenten – und die Klangfarben eines Barockorchesters passen besser zum Knabenchor. Aber da der derzeitige Gewandhauskapellmeister zwar für Bach, aber nicht für Darmsaiten ist, geht es nicht weiter. Andererseits ist das Gewandhausorchester natürlich ein großartiges Orchester, und ein eigenes Ensemble nur für die Thomaskirche wäre nicht effektiv.

Sie sind ja auch Komponist. Wird das vom Thomaskantor erwartet?

Nicht mehr, das hörte auf mit Karl Straube, der gar nicht komponiert hat. Er sagte: Die Berechtigung, das Amt auszuüben, habe ich dadurch, dass ich der Bach-Renaissance aufhelfe, das ist meine schöpferische Arbeit. Kurt Thomas hatte seine kompositorische Tätigkeit beendet, als er nach Leipzig kam, Erhard Mauersberger hat mehr im Ruhestand komponiert. Mein Vorgänger, Hans Joachim Rotzsch, komponiert nicht. Ich schreibe nur Sachen, die ich zum Vorhandenen beisteuere, und versuche die Lücken zu füllen, die ich sehe.

Der Chor und Sie als Dirigent haben ein erstaunlich großes Pensum zu absolvieren.

Ich leite jeden Freitag und jeden Samstag die Motetten und Kantaten, dazu die Passion, das Weihnachtsoratorium und die Konzerttourneen. Die Gottesdienste sonntags leiten mein Assistent oder die drei Präfekten. Die haben viel mit Notenkram zu tun und werden entlohnt mit Dirigaten.

2012 feiern Thomasschule und Thomaschor 800. Geburtstag und Sie persönlich Ihr 20. Jubiläum als Thomaskantor. Ist das Amt so schön, wie Sie es sich als junger Thomaner erträumt haben?

Ich bin jetzt dabei wegzulassen, was mich früher beschwert hat in der Ausübung des Amtes. Die Stadt finanziert den Ausbau des „forum thomanum“ mit 11 Millionen Euro. Da sollte man nicht undankbar sein. Und die Arbeit mit den Knaben ist mitunter auch eine künstlerische Erfüllung.

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