Wer sich mit Giedrė Šlekytė zum Interview verabredet, erlebt eine Dirigentin voller Entdeckungsfreude und Tatendrang. Ihre Wissbegierde beim Musiktheater stillte die Litauerin zuletzt durch eine Assistenz bei Vladimir Jurowski an der Bayerischen Staatsoper, in der laufenden Saison steht sie bei Opernaufführungen in Zürich, Hamburg und Berlin am Pult.
Frau Šlekytė, in den vergangenen Jahren dirigierten Sie zahlreiche Opernproduktionen – wie sieht Ihr Berufsalltag aus?
Giedrė Šlekytė: Wenn ich mich gerade in einer Neuproduktion befinde, hängt der Tagesablauf sehr von den Probenzeiten ab. Oft probt man dann sieben Stunden am Tag, da bleibt nur wenig Zeit, noch andere Dinge zu studieren. Zwischen Projekten bin ich meist zuhause in Klagenfurt, dort nutze ich dann fast jeden Tag für das Partiturstudium – am liebsten vormittags, die Morgenstunden sind meine produktivsten. Wenn ich bis zum Mittag gut studiert habe, bin ich den Rest des Tages entspannter und kann mich am Nachmittag organisatorischen oder anderen Dingen widmen. Wenn ich etwas am Bildschirm erledigen kann, setze ich mich dafür auch gerne mal in ein Café oder mache es auf einer Zugfahrt.
Wer Ihnen auf Instagram folgt, weiß, dass für Sie auch Fitnesstraining dazugehört.
Šlekytė: Ja, ich mache regelmäßig Yoga und beteilige mich in Sozialen Medien an der Aktion „100 Workouts im Jahr 2024“, wo es darum geht, dass man etwa zwei Mal pro Woche Sport macht. Das tut meinem Körper und Geist sehr gut. Generell versuche ich, so gesund wie möglich zu leben und fit zu sein, denn die Abende auf dem Podium sind physisch durchaus anspruchsvoll. Und meine Reisekoffer sind aufgrund der vielen Noten auch nicht gerade leicht …
Was würden Sie sagen, ist im Moment die größte Herausforderung bei Ihrer Arbeit?
Šlekytė: Eine gute Balance zu finden. Einerseits will ich viel neues Repertoire entdecken, aber um das tiefgründig studieren zu können, braucht es viel Zeit. Ebenso geht es um die Balance von Aufführungen und den Pausen dazwischen. Die brauche ich, um die Inspiration für die anstehenden Arbeiten zu behalten und zu finden.
Wie haben Sie 2020/2021 die erzwungene Pause durch Corona erlebt?
Šlekytė: Als die Pandemie einsetzte, herrschte erst mal eine große Ungewissheit, man wusste ja nicht, wie lange es dauert. Ich habe einige Stücke in der Zeit einstudiert, doch dann wurden die Aufführungen verschoben oder ganz abgesagt. Man musste immer wieder umplanen. Für mich war es aber keine verlorene Zeit. Zuhause habe ich mich sehr viel mit unserem Garten, mit Gemüseanbau beschäftigt, das wurde tatsächlich zu einem großen Hobby. Wir bauen hier inzwischen einiges an, dadurch habe ich viel über die Natur gelernt, über Saisonalität, Regionalität, Geduld – und es ist immer wieder toll, zwischendurch den eigenen Salat oder Spinat zu essen.
Inwiefern gehören auch Sprachen zu Ihren Hobbys? Ein Instagram-Foto zeigt Sie, wie Sie gemeinsam mit Ihrem Vater ein russisches Libretto studieren …
Šlekytė: Nun, zuerst habe ich Englisch gelernt, als Nächstes Deutsch, weil ich in Österreich und danach in Deutschland studierte. Anschließend kam Italienisch dazu, weil ich mich sehr für die Oper interessierte, auch ein bisschen Französisch – so glaubte ich, wäre ich für das Musiktheater gut gewappnet. Aber dann stand auf einmal Repertoire auf Tschechisch und Russisch auf dem Spielplan. Da dachte ich: Es sind offenbar immer noch nicht genug Sprachen, die ich gelernt habe. (lacht)
Dirigieren Sie eine Oper besser, wenn Sie von jedem Arientext die Übersetzung kennen?
Šlekytė: Ich kann es mir schlicht nicht anders vorstellen. Ich muss genau wissen, was die Wörter bedeuten, die gesungen werden, deswegen verbringe ich viel Zeit damit. Häufig sind bei der Vorbereitung dann vier Sprachen auf dem Tisch: Von einer tschechischen Oper lese ich zuerst die Übersetzung ins Englische, muss mir dann aber manche Ausdrücke ins Litauische übersetzen, damit ich sie verstehe, oder auch ins Deutsche. Das ist durchaus mühsam und aufwendig, andererseits macht es großen Spaß und ich habe immer das Gefühl, dass ich persönlich wachse, wenn ich meine Kenntnisse in den verschiedenen Sprachen vertiefe.
Sie sagten einmal, Oper sei für Sie wie eine Droge. Auch als Zuschauerin?
Šlekytė: Absolut! Einfach weil die Oper so eine fantastische und vielfältige Kunstform ist. Wenn ich heute unterwegs bin, in anderen Städten, versuche ich eigentlich immer, Oper, Konzerte oder auch Theatervorstellungen anzuschauen.
Als Sie vor Kurzem in einem Internet-Beitrag Daniel Barenboim erwähnten, taten Sie das mit dem Zusatz „Maestro„“. Wie reagieren Sie, wenn Sie selbst als »Maestra« bezeichnet werden?
Šlekytė: Also, ich bekomme da keine allergische Reaktionen. Im Gegenteil, ich sehe darin eine Wertschätzung, es ist schließlich ein Ausdruck dafür, dass jemand ein Meister in seinem Fach ist.
Das Wort ist also noch nicht aus der Mode gekommen?
Šlekytė: Dass der Begriff altmodisch ist, wäre mir neu. Ich bin viel mehr gespannt, wie sich in Zukunft die weibliche Form etablieren wird. In vielen Ländern wird „Maestra“ schon häufig gebraucht, jedoch nicht in Italien, weil im Italienischen das Wort als Bezeichnung für Grundschullehrerinnen gebraucht wird. Ich vermute allerdings auch, dass mich manche Menschen mit „Maestra“ ansprechen, weil sie nicht genau wissen, wie mein Nachname ausgesprochen wird.
Sie wurden in Vilnius geboren, leben in Klagenfurt und arbeiten in vielen verschiedenen Ländern. Wo ist für Sie Heimat?
Šlekytė: Meine Heimat ist ganz klar Litauen. Ja, ich lebe schon schon lange in Österreich, ein fantastisches Land, in dem ich sehr gut integriert bin. Aber das ändert nichts an der Tatsache dass ich mich als Litauerin fühle und identifiziere. Ich freue mich auch sehr, wenn ich Werke litauischer Komponistinnen und Komponisten dirigieren und somit unser Land in aktuellen Klängen präsentieren kann.
Wie ist im Moment Ihr persönliches Verhältnis zu russischem Repertoire, zwei Jahre nach Beginn der Invasion Russlands in der Ukraine?
Šlekytė: Ich selbst programmiere im Moment tatsächlich weniger russische Musik. Das ist aber eine sehr persönliche Entscheidung, für die ich in mich hineinhorche und dann überlege, auf welche Werke ich im Moment die größte Lust habe. Da wären sicherlich mehr russische dabei, wenn es diesen Krieg nicht geben würde. Ich würde aber nie jemand anderem dazu raten, keine russische Musik mehr aufzuführen, auf gar keinen Fall.
Steht in Litauen heute weniger russische Musik auf dem Spielplan als vor dem Krieg?
Šlekytė: Ja, das ist so. Man muss aber bedenken, dass in Litauen das Trauma der Besatzung in der Sowjetzeit und der aufgezwungenen Russifikation noch immer sehr lebendig ist. Viele Familien waren davon betroffen, auch von Deportationen. Durch die aktuelle Situation mit der Ukraine wurden sehr viele Erinnerungen wach und Wunden wieder aufgerissen.
Zum Schluss: Sie haben mal gesagt, dass Sie nie auswendig dirigieren werden. Warum?
Šlekytė: Da hat mich insbesondere Bernard Haitink geprägt, bei dem ich einmal einen Meisterkurs machte. Er sagte, er habe die Partitur immer dabei, weil er ansonsten, im ungünstigen Fall, die Verantwortung auf das Orchester abschieben müsste. Wenn im Konzert irgendetwas Unvorhersehbares passiert, kann man ohne die Noten durchaus in Probleme geraten. Deswegen werde ich immer, auch bei Werken, die ich oft dirigiert habe und sehr gut kenne, eine Partitur dabei haben.
Manche Musiker nutzen mittlerweile digitale Noten anstelle von Papier. Wäre das auch etwas für Sie?
Šlekytė: Nein. Mit so einem Tablet auf dem Pult, das ist vielleicht etwas für die Mutigen, für mich aber kommt das nicht infrage. Ich bleibe bei Papier.
Martinaitytė: Saudade
Werke von Martinaitytė
Gabrielius Alekna, Lithuanian National Symphony Orchestra, Lithuanian Chamber Orchestra, Giedrė Šlekytė (Leitung)
Ondine