Kurz vor dem Telefon-Interview mit Isang Enders Anfang Mai stürzt die gesamte Telefonanlage im Homeoffice der Autorin komplett ab. Aber das Handy geht noch, und nach einer zielführenden Einweisung ins Alternativprogramm funktioniert am Ende alles wunderbar. Bei allen Talenten, die der Cellist Isang Enders im Gespräch offenbart, zeigt er vorher bereits beeindruckte Kompetenzen in technischen Fragen.
Wie haben Sie die konzertlose Zeit während des Corona-Shutdowns erlebt?
Isang Enders: Ich sollte im Februar nach Asien fliegen, alle Konzerte wurden im Januar schon abgesagt – und alle weiteren in Deutschland bis September. Im ersten Moment war ich dennoch beflügelt von all der freien Zeit. Es ist ein unfassbarer Luxus, zu Hause zu sein. Ich lebe mit meiner Frau und unserem einjährigen Sohn in Berlin. Eine so entscheidende Phase in der Kindheit meines Sohnes hautnah mitzuerleben ist ein Geschenk des Himmels. Natürlich macht sich auch bei mir Verunsicherung breit, allerdings kommen nun wieder Anfragen für Konzerte. Ich werde sicher sehr nervös sein.
Trifft die Krise die jüngere Generation von Musikern härter als die etablierten?
Enders: Ich kenne viele ältere Musiker, die frustriert waren, nicht mehr das tun zu können, was sie gewohnt sind. Menschen in meinem Alter hat die radikale Handbremse eher zur Besinnung gebracht. Man macht sich grundsätzliche Gedanken über den Markt, die eigenen Ansprüche, die Reiserei. Wenn die Grenzen wieder offen sind – fliege ich dann trotzdem für ein einziges Konzert nach Korea? Man fühlt sich unheimlich wichtig, es ist aber in vielerlei Hinsicht eine totale Katastrophe. So viele Bäume kann ich gar nicht pflanzen, wie ich schon durch das Fliegen verbrannt habe.
Trotz aller Besinnung haben Sie sicher auch eine Menge vermisst.
Enders: Vor allem das gemeinsame Musizieren mit Kollegen. Ich vermisse aber auch die Momente der Zurückgezogenheit, die ich viel auf Reisen erlebt habe. Und ich vermisse Aufgaben, die extrinsisch motiviert sind, also von außen kommen. Das hat eine gewisse Kraft, und die Belohnung, wenn man solche Hürden überwindet, kann sehr groß sein. Die extreme Selbstbestimmung ist sehr ungewöhnlich: manchmal befreiend und manchmal eine extreme Überforderung.
Dabei sprechen Ihre bisher veröffentlichten Alben von sehr viel Selbstbestimmung als Künstler.
Enders: Ein Album herauszubringen bedeutet für mich, das eigene Profil schärfen zu können. Man kann viel konsequenter seine Interessen teilen als es im normalen Konzertbetrieb möglich ist. Für ein Album recherchiere ich viel und lasse mir viel Zeit. Da bin ich ganz anachronistisch. Nach dem Solo-Album mit den Bach-Suiten wollte ich ein farben- und kontrastreiches Repertoire angehen. Der Titel „Vox Humana“ bezieht sich auf die viel beschworene Ähnlichkeit vom Klang des Cellos und dem menschlichen Gesang. Aber es ging mir auch darum, kammermusikalisch tätig zu sein.
Vor allem ist es aber sehr französisch. Wie kam es zu dem frankophilen Bekenntnis?
Enders: Die Achse ist Claude Debussy, mit dem ich mich näher beschäftigt habe. Anlass dafür war sein 100. Todestag im Jahr 2018. Ich wollte seine Tonsprache und seine Inspirationsquellen kennenlernen. Debussy hat zum Broterwerb eine Zeit lang Werke von Marin Marais arrangiert. Er schuf ein unerschöpfliches Repertoire für ein bestimmtes Streichinstrument: Er war Gambist. Auf der anderen Seite der Achse befinden sich Komponisten, die sich wiederum von Debussys Welt haben inspirieren lassen, etwa Olivier Messiaen.
Wie passen die Schwestern Nadia und Lili Boulanger in das Konzept?
Enders: Sie waren beide wie Debussy Trägerinnen des Prix de Rome für Komposition. Igor Strawinsky, der auch auf dem Album vertreten ist, war ein Freund der Familie. Nadia Boulanger und Olivier Messiaen eint ihre Tätigkeit als große Pädagogen. Lili Boulanger halte ich für eine sehr talentierte Komponistin. Tragischerweise starb sie sehr jung mit nur 25 Jahren. Sie hatte aufgrund vieler Erkrankungen wenig soziale Kontakte. Ihr einziger Sinn des Lebens war es zu komponieren. Das hat für mich etwas Entrücktes. Sie passte toll auf das Album, das wie ein Theaterstück mit kleinen Szenen von unterschiedlichem Charakter sein soll.
Sie haben selbst auf dem Album arrangiert. Da ist es ja zum Komponieren nicht mehr weit. Bahnt sich ein neues Interesse an oder war es reiner Pragmatismus?
Enders: Komponieren finde ich einen unglaublich faszinierenden Prozess, ich bewundere diese Kunst sehr. Das Arrangieren finde ich aber eher die kleine Stiefschwester vom Komponieren. Es hat mich trotzdem immer begeistert, weil ich auch einfach gerne Noten schreibe. Aber dieses Repertoire hat es quasi erzwungen. Zwischen Johannes Brahms und den russischen Komponisten, die von Mstislaw Rostropowitsch inspiriert wurden, klafft eine große Lücke für das Cello. Die Zweite Wiener Schule hat dem Instrument auch kaum etwas hinterlassen.
Beim Arrangieren für „Vox Humana“ haben Sie viele Freunde zusammengebracht…
Enders: Mein Debüt-Album mit den Cellosuiten von Johann Sebastian Bach und die anschließende Tour war werkbedingt eine einsame Sache. Das ist eher die Ausnahme für einen Musiker. „Vox Humana“ war eine tolle Gelegenheit, mich mit meinen musikalischen Partnern zu zeigen. Bei solch einem Repertoire wären Cello und Klavier auch zu einseitig gewesen.
Ein weitere Facette von Ihrem künstlerischen Werdegang ist die Lehre. Was bedeutet Ihnen das Unterrichten?
Enders: Das würde ich gerne wieder machen. Ich muss zugeben, dass es eine der schwierigsten Seiten meines Berufs ist, weil man sehr viel Verantwortung übernimmt. Ich habe das schon in sehr jungen Jahren getan. Als ich Solo-Cellist in der Staatskapelle Dresden war, unterrichtete ich die Akademisten. Später übernahm ich eine Vertretungsprofessur an der Hochschule in Frankfurt. Fast alle Schüler der Klasse waren älter als ich. Da habe ich gemerkt, dass Autorität etwas ist, was man sich sehr hart erarbeiten muss. Mir war die Systematik sehr wichtig. Das Cellospiel ist ein zunächst mal ein Handwerk. Wenn man das erlernt hat, kommt der existenzielle Teil: lernen, wie man sich künstlerisch auszudrückt.
Wer hat Ihnen das beigebracht?
Enders: Zu meinen entscheidenden Lehrmeistern zählt der kürzlich verstorbene Lynn Harrell. Er hat mir eine unfassbare Palette an Möglichkeiten gezeigt hat, meinen Stil zu finden. Wenn ich meinen Schrank aufmache und nichts anzuziehen habe, dann muss ich nackt herumlaufen und kann meine künstlerische Identität schlecht zeigen. Er hat mir gezeigt, womit man den Kleiderschrank füllen kann! Als ich in einem Weltklasse-Orchester saß, haben mich auch diese großen Dirigenten wie Zubin Mehta, Simon Rattle und Christian Thielemann sehr inspiriert. Ihre Aura der Hingabe, besonders zum Gesamtkunstwerk Oper, war faszinierend. Ein Schubert-Quintett hat selbstverständlich auch eine gewisse Größe, aber vor der Oper habe ich am meisten Ehrfurcht.
Was für eine Rolle hat Ihre musikalische Familie dabei gespielt?
Enders: Eine entscheidende! Beide Elternteile sind an einem Opernhaus beschäftigt, daher war mir immer alles so vertraut. Als kleines Kind stand ich schon als Knabenchor-Sänger und Statist auf der Bühne, habe diese Welt also wirklich mit der Muttermilch aufgesogen, wie man so sagt. Meine Eltern haben mich allerdings nie zu etwas gedrängt. Musiker zu werden ist eine Berufung, zu der niemand gezwungen werden kann. Darüber, dass ich diese Entscheidung selber treffen durfte, bin ich sehr froh.
Gibt es etwas, was Ihnen außer der Liebe zur Musik Erfüllung bringt?
Enders: Ich hege tatsächlich eine große Leidenschaft für das Einrichten, koche gelegentlich auch mal ein Zehn-Gänge-Menü und habe während der Corona-bedingten Zeit zu Hause auch das Gärtnern entdeckt. Auch Fotografieren und Schreiben gehören zu meinen Hobbys. Ich lese auch sehr viel und diszipliniert über Geschichte und Philosophie. Vielleicht habe ich ein bisschen das Gefühl, etwas nachholen zu müssen. In meiner Kindheit war ich vogelfrei und faul. Irgendwann kam dann der Punkt, an dem ich dachte, ich muss jetzt auch mal etwas zustande bringen.