An einem Orchester fest angestellt und gleichzeitig als Gastdirigent gefragt zu sein, ist oft eine Gratwanderung: Allzu schnell steht man im Verruf, „sein“ Orchester zu vernachlässigen, um an den großen Bühnen der Welt dirigieren zu können. Dem kroatischen Dirigenten Ivan Repušić gelingt der Spagat vortrefflich – auch in besonderen Zeiten wie diesen.
Wie gestaltet sich denn die Probenarbeit während der Coronakrise?
Ivan Repušić: Die derzeitigen Regelungen verlangen bei den Streichern zwei Meter, bei den Bläsern drei Meter Abstand. Mein erstes Konzert nach drei Monaten Lockdown in Kroatien war mit meiner Bläsergruppe. Wir hatten nur drei Tage Probenzeit, mussten also einen Weg finden, wie wir zusammen kommunizieren können. Wie soll man zum Beispiel eine Unisono-Linie spielen, wenn die erste Oboe und das erste Fagott sieben oder acht Meter auseinander sitzen? Als Dirigent kann ich mit meinen Impulsen und Gesten helfen, aber ich will ja kein Verkehrspolizist sein, sondern möchte Musik machen. Aber wir haben den Weg gefunden und das richtige Programm ausgewählt, so dass das Konzert am Ende erfolgreich war. Im Studio waren zu der Zeit nur weniger als dreißig Leute erlaubt – Tonmeister, Kameraleute und so weiter mit eingerechnet. Da hat man kaum Möglichkeiten, mit Bläsern und Streichern gemeinsam zu musizieren.
Trotzdem konnten Sie schon erste Konzerte geben, darunter ein Festkonzert zur Staffelübergabe im EU-Rat, als Anfang Juli Deutschland die Präsidentschaft von Kroatien übernahm.
Repušić: Da hatten wir die Idee, parallel zwei Konzerte zu geben: eines in Zagreb und eines in München – mit der Livestream-Technik war das möglich. So konnten die Musiker beider Länder zeigen, dass die Musik ein Lebensmittel ist und kein Luxus.
Im Sommer veröffentlichten Sie mit dem Münchner Rundfunkorchester ein Album mit dem Glagolitischen Requiem von Igor Kuljerić. Das Werk ist Mitte der Neunzigerjahre entstanden, kurz nach dem Kroatienkrieg. Hat das Werk so besehen auch eine politische Komponente?
Repušić: Das ist naheliegend, aber nein, es ist vor allem ein sehr persönliches Werk. Ich kannte den Komponisten und hatte im Vorfeld der Produktion Kontakt zu seiner Witwe. Im Ort, wo Kuljerić aufgewachsen ist, gab es noch die glagolitische Gesangstradition. Die glagolitische Sprache stammt aus dem 9. Jahrhundert. Kuljerić hat als Kind noch all diese Melodien und Melismen gehört, die er dann ein Leben lang mit sich trug. Er hat jahrzehntelang auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, wann er sie niederschreiben sollte. Dann gab ihm der damalige künstlerische Leiter des Sommerfestivals in Zadar einen Text, der das Requiem in glagolitischer Sprache beinhaltete. Als Kuljerić diesen Text gelesen hat, fing er sofort mit dem Komponieren an und konnte endlich all die Melodien niederschreiben, die er fast fünfzig Jahre lang mit sich herumgetragen hat. Kurz bevor ich mein Studium in Zagreb angefangen habe, war ich tatsächlich bei der Uraufführung dabei!
Wie haben Sie sie erlebt?
Repušić: Das war alles hochinteressant für mich, vor allem diese archaischen Melodien verbunden mit Kuljerićs moderner Klangsprache. Er war wirklich ein Meister der Klangfarben! Er hat bei Luigi Nono studiert, hat sich intensiv mit der Avantgarde beschäftigt und komponierte gleichzeitig auch in einem ähnlichen Stil wie Arvo Pärt oder Pēteris Vasks, vielleicht nicht so spirituell.
Pflegt man denn in Kroatien das eigene musikalische Erbe?
Repušić: Da kann ich Ihnen als Beispiel die Friedenshymne von Jakov Gotovac nennen, mit der seit über sechzig Jahren das Dubrovnik Sommerfestival eröffnet wird. Der Text dazu stammt von Ivan Gundulić, der im 17. Jahrhundert gelebt hat, als Dubrovnik als unabhängige Republik eine lang andauernde Blütezeit erlebte. Seine Hymne an die Freiheit hat universale Gültigkeit. Der Text und die Musik beschreiben sehr stark, wie schön es ist, in Freiheit zu leben. Gotovac selbst war ein Komponist, mit dem sich das kroatische Volk stark identifizieren konnte. Übrigens kam der Vorschlag, seine Oper „Ero der Schelm“ einzuspielen, nicht von mir, sondern von Herrn Schmilgun, dem Direktor des Labels cpo. Natürlich war ich sofort begeistert davon, aber man muss auch vorsichtig sein, dass man nicht sofort die wichtigsten Werke der eigenen Heimat auf den Spielplan setzt.
Wie ist es für Sie, eine Oper konzertant aufzuführen, wie es bei „Ero der Schelm“ der Fall war?
Repušić: Man konzentriert sich dann mehr auf die Musik, das ist der schönste Aspekt. Man hat auch nicht das Problem, dass die Sänger auf der Opernbühne manchmal ungünstig positioniert sind. Auf der anderen Seite ist es schwierig, wenn das Publikum ohne Szenerie mit Musik konfrontiert wird, deren Texte nicht so leicht verständlich oder gar in einer anderen Sprache sind. Insgesamt aber ist die konzertante Aufführung einer Oper eine gute Gelegenheit, weniger bekannte Musik zu spielen. Deshalb haben wir ja auch den Zyklus mit den weniger bekannten oder nur selten gespielten Opern des jungen Verdi ins Leben gerufen. Dazu kommt noch, dass wir nicht nur für das Publikum vor Ort spielen, sondern auch im Radio oder Internet übertragen werden und auch CDs davon aufnehmen, so dass die Musikinteressierten quasi weltweit Zugang auch zu seltener oder kaum gespielten Werken haben.
Von Kammersinfonik bis hin zu Oper und Musical spielt das Münchner Rundfunkorchester praktisch alles – was wiederum heißt, dass Sie auch praktisch alles dirigieren. Waren Sie schon immer Universalist oder hatten Sie in früheren Zeiten bestimmte musikalische Vorlieben?
Repušić: Ich hatte das Glück, dass ich schon früh einen Weg eingeschlagen habe, bei dem ich mich nicht festlegen musste, ob ich jetzt Oper oder Sinfonisches machen möchte. Klar, ich war Musikdirektor an der Oper in Split, Generalmusikdirektor in Hannover, bin ständiger Gastdirigent an der Deutschen Oper in Berlin, man kann also schon auf die Idee kommen, dass ich eher ein Operndirigent bin. Ich war auch in Zadar fünfzehn Jahre lang Chefdirigent des Kammerorchesters und habe als Gastdirigent mit anderen großen Orchestern sinfonische Programme aufgeführt. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich auf so vielfältige Art Musik machen darf, weil es auch ein umfassendes Verständnis von Musik nach sich zieht.
Ihre Vielseitigkeit war also schon zu Studienzeiten gegeben?
Repušić: Das nicht, nein. Ich hatte zwar ein ganz allgemeines Interesse an klassischer Musik, aber dass ich später auch Operndirigent werden wollte, wusste ich noch nicht. Wobei ich dazu sagen muss, dass wir in Zadar, wo ich meine Kindheit verbracht habe, fünf Jahre lang Krieg hatten. Es gab da keine Möglichkeit, in die Oper zu gehen. Live eine Oper zu hören, das fing eigentlich erst an, als ich Student war. Ja, und dann habe ich mich in die Oper verliebt, habe in Zagreb ständig Aufführungen besucht, bin auch nach Wien in die Staatsoper gegangen, wo ich dann all diese wunderbaren Aufführungen erleben konnte.