Seit fast dreißig Jahren ist Ivor Bolton in verschiedenen Positionen im Musikbetrieb aktiv. Siebzehn Neuinszenierungen hat er an der Bayerischen Staatsoper gestemmt, seit 2004 ist er Chef des Mozarteum-Orchesters Salzburg. Er war Chefdirigent des Scottish Chamber Orchestra, gründete die James’s Baroque Players, und war Music Director der Glyndebourne Touring Opera.
Herr Bolton, Sie können auf eine sehr erfolgreiche Karriere zurück schauen. Wie viel Glück gehört zu so einer Laufbahn?
Mit meinem Stipendium an der Cambridge University fing alles an, ich konnte dort auf unendlich hohem Niveau studieren, eine außerordentliche Chance, die heute ein Kind aus der Arbeiterklasse in England nicht mehr hat.
Wieso?
Ich wurde 1958 in Blackrod, Lancashire, geboren. Mein Vater war Zugschaffner, meine Mutter Näherin. Ich kam als Kind in den Domchor, wir hatten einen wunderbaren Chorleiter, der auch ein guter Schulmeister war. Doch heute, mit der zunehmenden Schließung der grammar schools, die nichts kosteten und in denen man eine fundierte humanistische Ausbildung bekam, wäre mein Werdegang kaum mehr möglich. Ich hätte überhaupt keine Chance mehr, schon gar nicht an dem Ort, wo ich aufwuchs. Heute müsste man auf eine sehr teure und elitäre Privatschule. Wir haben dort obendrein über sechzig Prozent Moslems, die wollen keine Musik an den Schulen. Und dann haben die wesentlich mehr Kinder als wir, sprich, ihr Einfluss wächst.
Wen machen Sie für diese Bildungskatastrophe verantwortlich?
Die Sozialisten um Gordon Brown und Tony Blair. Sie hatten eine fatale Botschaft. Sie sagten, klassische Musik und die Oper seien elitär und nur für reiche Leute.
Also war es nicht ein Problem gesellschaftlicher Klassen, sondern der politischen Kaste?
Genau. Sie förderten die Verdummung der Masse; ja, so wird man ja auch gewählt. Das Erziehungssystem ist eine Katastrophe, weil die untere Klasse keine Möglichkeit mehr hat, eine grammar school zu besuchen. Jetzt erst kommt die ganze Wahrheit ans Licht. Und das ist so zynisch.
Wie konnte diese Politik auf so fruchtbaren Boden fallen? Es heißt, bereits Johannes Brahms habe über den Musikgeschmack der Engländer gelästert.
Es hat etwas mit der geographischen Situation zu tun, der Insellage. Es gab zeitweise wunderbare Musik am Hofe und an der Kirche, aber kein richtiges Bürgertum, das dies förderte. Unser wichtigster und beliebtester Komponist war auch ein Deutscher! (lacht)
Dank der industriellen Revolution aber gab es auch eine sehr breite urbane Arbeiterklasse, die vielleicht nicht die schönen Künste, sondern eher Unterhaltung suchte.
Sie sagen es! Genau das ist es. Auch deshalb konnte die socialist party so viel Erfolg haben.
Normalerweise steht in Deutschland immer nur die Eiserne Lady, Margaret Thatcher, am Pranger.
Ja, ja, so eine Meinung ist natürlich etwas salonfähiger. Margaret Thatcher war eine begabte Ökonomin, sie hat das Land wirtschaftlich auf Vordermann gebracht. Sie war vielleicht nicht unbedingt so brennend interessiert an der Kunst, aber sie hat Kunst auch nicht verachtet, und förderte sie. Und das ist wichtig.
Von dem Dirigenten Josef Krips ist das Wort überliefert, dass Musik eine aristokratische und keine demokratische Kunst sei.
In der Organisation eines Orchesters stimmt dies, es muss einen geben mit einer musikalischen Vision, der diese dann gemeinsam mit den anderen durch- und umsetzt. Aber demokratisch sollte der Zugang zur Musik schon sein. Hier in Deutschland können Sie Kultur auf jedem Niveau erleben. Das ist doch großartig.
Dann müssen Sie ja begeistert sein über die deutsche Kulturpolitik!
Ja, das bin ich, auf jeden Fall. Und mehr noch über das kulturelle Bewusstsein hier.
Können Sie denn das kulturpessimistische Gezeter der Deutschen nachvollziehen, der zufolge das Schulsystem und der Kulturbetrieb am Abgrund stehen? Jammern wir auf zu hohem Niveau?
Natürlich gibt es auch Schließungen von Theatern in Deutschland, Fusionen von Orchestern. Und trotzdem habe ich hier den Eindruck eines anderen Bewusstseins, und dies liegt nicht nur an der gesamten Kulturgeschichte des Landes, sondern auch an den staatlichen Förderungsbudgets. Sie geben Planungssicherheit für Projekte, davon können die Engländer nur träumen.
Wie unterscheidet sich der englische Opernbetrieb vom deutsch-österreichischen?
In Deutschland gibt es an großen Häusern das Repertoiresystem, da werden sehr viel mehr Opern als in England gespielt. Allein die Bayerische Staatsoper hat bestimmt vierzig Opern im Repertoire. Von der Mentalität her sehe ich so große Unterschiede nicht, das liegt auch daran, dass viele Nationen in einem Orchester vertreten sind. Doch in München tut man sehr viel mehr für die Subventionen, die man erhält, als etwa in Paris oder London. In München, aber auch in Wien sieht man alte Menschen auf den ganz billigen Plätzen. Die kommen sogar mehrmals in der Woche. In London ist der Zugang zur Kunst wesentlich schwerer und kostspieliger; da sind die langen Wege, die teuren Taxis und Restaurants. Wie soll man die Familie da nach Covent Garden ausführen?
Seit 2004 sind Sie Leiter des Mozarteum-Orchesters. Ihr Vertrag wurde mehrmals verlängert. Was wünschen Sie sich noch?
Ich wünschte mir natürlich, dass man das Orchester als eine nationale Institution sieht und nicht nur eine regionale. Das ist allerdings nicht ganz leicht, obwohl wir in Salzburg auf den wichtigsten Festivals präsent sind. Aber wir bieten auch während des Jahres ein wunderbares Musikprogramm. Hinzu kommt jedes Jahr die Mozartwoche. Sehr populär sind auch unsere Sonntagsmatineen.
Mit dem NDR Sinfonieorchester werden Sie unter anderem mit Franz Berwalds Ouvertüre zu Estrella de Soria zu hören sein.
Ja, dem „schwedischen Mendelssohn“, wie man Berwald nennt. Ein schönes Werk, voller harmonischer Farben. Ich freue mich auf das Orchester, sie sind durch Thomas Hengelbrock so gut vorbereitet und trainiert.