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Interview Jan Lisiecki

„Man möchte schließlich auch das Leben genießen!“

Pianist Jan Lisiecki über besondere musikalische Begegnungen, seine Leidenschaft fürs Fotografieren und die Vorzüge von Zugreisen.

vonMaximilian Theiss,

Als das Interview in einem der Künstlerräume der Elbphilharmonie stattfinden soll, übt Jan Lisiecki gerade für den Konzertabend. In den Wochen darauf wird der Pianist alle fünf Beethoven-Konzerte aufführen und mehrere Recitals geben. Ein straffes Programm für einen so jungen Künstler, der außerdem in den Wochen zuvor eine CD mit Werken von Mendelssohn eingespielt hat.

Sie sind 23 Jahre alt. Es kann also noch nicht allzu lange her sein, dass Sie zum ersten Mal ein Stück von Mendelssohn gespielt haben. Erinnern Sie sich noch daran?

Jan Lisiecki: Offen gesagt: nein. Aber es wird wohl eines der „Lieder ohne Worte“ gewesen sein. Eines meiner ersten Mendelssohn-Stücke, an das ich mich richtig erinnern kann, war das „Rondo Capriccioso“. Ich war begeistert von der Leichtigkeit oder gar Gefälligkeit des Stücks, das auf der anderen Seite so unglaublich komplex komponiert ist – eigentlich so wie bei Mozart: Will man dessen Kompositionen gerecht werden, muss man sich über jede einzelne Note und den Aufbau Gedanken machen, um die vermeintlich simple Eleganz der Stücke herauszuschälen. Das entspricht auch meiner Auffassung als Interpret: Ich bin nicht der Solist, der mit rasanten Läufen und vollgriffigen Knalleffekten die Zuhörer beeindrucken möchte.

Dann dürfte die Aufnahme entsprechend herausfordernd gewesen sein: Das Orpheus Chamber Orchestra arbeitet ohne einen Dirigenten, der stellvertretend für das Orchester die Exegese der Partitur übernehmen könnte …

Lisiecki: … und trotzdem war es eine bemerkenswert unkomplizierte, wirklich fantastische Zusammenarbeit! Ich habe keinerlei künstlerische Einschränkungen empfunden, im Gegenteil: Es ist inspirierend, wie die Musiker auf das Spiel ihrer Kollegen reagieren und sich untereinander beraten. Da gibt es nicht die eine leitende Person, sei es ein Dirigent oder ein Konzertmeister, der eine Interpretationsweise oder musikalische Idee für alle vorgibt. Jede Musikerin und jeder Musiker darf gleichermaßen Fragen in die Runde werfen oder Vorschläge machen, wie man diese oder jene Passage spielen könnte. Diese voll und ganz auf Zusammenarbeit zugeschnittene, fast schon kammermusikalische Herangehensweise an Musik war großartig. Und ich hoffe, dass man das auf der Aufnahme auch hört.

Jan Lisiecki
Jan Lisiecki © Christoph Köstlin

Beim Blick auf Ihre Konzertprogramme und bisherigen CDs fällt auf, dass Sie nicht gerade der Mann für pianistische Hit-Zusammenstellungen sind.

Lisiecki: Natürlich ist es schön, eine bekannte Chopin-Nocturne oder Beethovens „Mondschein-Sonate“ zu spielen. Man sollte sie aber nicht aus dem Zusammenhang reißen. Die Mischung muss stimmen: Wenn das Publikum vertraute Stücke hört, steht es den unbekannteren Werken gleich viel offener gegenüber.

Klingt so, als hätten Sie den Anspruch an sich selbst, das Repertoire Ihres Publikums zu erweitern.

Lisiecki: Das ist natürlich ein Ziel, aber man kann als Künstler daran auch scheitern, wenn man über das Ziel hinaus schießt oder im Gegenteil nicht weit genug geht. Wenn wir nur noch die berühmten Klavierkonzerte und Sonaten spielen, würde es über kurz oder lang immer mehr freie Plätze im Zuschauerraum geben. Man muss da die richtige Balance finden.

Den Kontakt zum Publikum halten viele Künstler auch über die sozialen Medien. Sie selbst sieht man dabei verdächtig oft in Zügen. Genießen Sie das Zugreisen wirklich? Wir Deutschen sind ja nicht allzu gut auf unsere Eisenbahn zu sprechen …

Lisiecki: (lacht) Ich liebe es, im Zug zu reisen! Und trotzdem muss ich Ihnen Recht geben: Jedes Land hat so seine Eigenheiten beim Zugverkehr, aber irgendwie ist es auch schön, wenn nicht alles haarklein nach Plan verläuft. Außerdem: Wenn ich auf Reisen kurze Nerven hätte, wäre Konzertpianist der falsche Beruf für mich, da ist man ja praktisch jeden zweiten Tag unterwegs.

Arbeiten Sie dann auch im Zug?

Lisiecki: Manchmal lese ich ein Buch, in aller Regel schaue ich aber einfach nur aus dem Fenster. Das liegt vor allem daran, dass ich nicht zu den Musikern gehöre, die ohne Instrument Noten studieren.

Jan Lisiecki
Jan Lisiecki © Christoph Köstlin

Man sieht in den Netzwerken auch Fotos von Ihnen, wie Sie gerade etwas fotografieren …

Lisiecki: Fotografieren ist eine Leidenschaft von mir. Es ist eine schöne Art, Neues zu sehen und zu entdecken. Im Grunde ist es wie beim Partiturstudium, beim Anhören von Aufnahmen oder auch beim Musizieren selber: Plötzlich entdeckt man etwas, von dem man gar nicht wusste, dass es überhaupt existiert. Auch das Fotografieren schärft die Sinne für das, was einem bei einem Spaziergang durch eine Stadt umgibt.

Können Sie sich denn auf Tour die Zeit nehmen, Städte kennenzulernen?

Lisiecki: Etwas Zeit kann ich mir immer freischaufeln, je nachdem, was gerade ansteht. Derzeit verbringe ich zum Beispiel noch mehr Zeit am Klavier als üblich, weil viele Konzerte mit unterschiedlichen Programmen anstehen. Aber ansonsten besuche ich gerne Galerien und Museen – oder laufe eben einfach mit meiner Fotokamera durch die Stadt. Man möchte schließlich auch das Leben genießen und nicht nur Konzerte geben.

Sie reisen nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern auch privat aus Leidenschaft. Verbringen Sie überhaupt noch Zeit zuhause?

Lisiecki: Tatsächlich nicht allzu viel, wobei das letzte Jahr in dieser Hinsicht schon extrem war. Ich habe gelernt, dass es wenig Sinn macht, nach einem Konzert auf Teufel komm raus nach Hause zu fliegen, um dann nach ein, zwei Tagen gleich zum nächsten Konzertort zu reisen. Wenn ich etwa in Rom bin und ein paar Tage frei habe zwischen zwei Konzerten, überlege ich mir, welche Reiseziele von dort aus gut zu erreichen sind. So kommt man auch an entlegene Orte.

Zum Beispiel?

Lisiecki: Im letzten Jahr habe ich etwa Albanien und Mazedonien bereist. Unter anderem. Solche Trips reißen mich viel mehr aus dem Alltag als ein Besuch in meiner kanadischen Heimat, wo ich mich dann doch nur ans Klavier setze.

Ein Pianist muss nicht nur Klavier spielen, sondern auch Selbstvermarktung betreiben. Wie wichtig ist Ihnen dieser Teil des Berufs?

Lisiecki: Selbstmarketing ist natürlich wichtig, wobei es für mich keinen Sinn macht, sich dafür zu verstellen. Ich denke, man ist da am besten beraten, wenn man zu sich selbst und zu seinem Charakter steht. Natürlich erfüllt es mich, wenn ich viele Leute mit meiner Musik glücklich mache, aber auch wenn es wie ein Klischee klingt: Ruhm oder Berühmtheit sind nur Illusionen. Die einzige Person auf der Welt, die wirklich berühmt ist, wird vermutlich Donald Trump sein. Den kennt wirklich jeder.

Und nur dann ist man berühmt, wenn einen jeder kennt?

Lisiecki: Naja, in seiner eigenen Welt mag man eine Berühmtheit sein, aber außerhalb davon? Letztens habe ich in den USA in einem Hotel übernachtet, vor dem eine große Menschengruppe stand, die offensichtlich Autogramme ergattern wollte. Auf meine Frage hin, auf wen sie denn warten würden, nannte man mir ein Basketball-Team, von dem ich nicht einen einzigen Spieler kannte.

Sie haben kein Interesse an Sport?

Lisiecki: Ich verfolge Großereignisse wie die Fußball-WM oder die Olympischen Spiele. Solche Veranstaltungen finde ich gerade als Musiker sehr interessant: Viele Herausforderungen an die Sportler kommen einem bekannt vor, etwa der Aspekt der Perfektion – denken Sie bloß an Eiskunstlauf! Das zu sehen, kann für einen Pianisten oder einen Musiker ganz allgemein sehr inspirierend sein.

Sehen Sie hier Jan Lisiecki mit dem Finnish Radio Symphony Orchestra unter der Leitung von Hannu Lintu mit Mozarts Klavierkonzert Nr. 9:

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Album-Tipp

Album Cover für
Mendelssohn: Klavierkonzerte Nr. 1 & 2 u. a.
Jan Lisiecki (Klavier), Orpheus Chamber Orchestra
Deutsche Grammophon

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