… Universum
Joep Beving: Per Zufall bin ich vor einigen Jahren auf ein Buch gestoßen, das 1955 erschien. Es heißt „The Urantia Book“. Es hat keinen spezifischen Autor, sondern wird einer Gruppe von Psychiatern beziehungsweise einer Stiftung zugeschrieben. Sie berichten von einem Geschäftsmann, der bei ihnen in Behandlung war und im Schlaf sprach. Sie notierten das, was er sagte, und erkannten erstaunliche Muster. Es gibt Aussagen über das Wesen des Universums, über den Glauben an ein höheres Wesen und die Beschreibung von anderen Populationen auf erdfernen Planeten. Für mich sind das Dinge, die mich schon immer interessiert haben. Wir werden es nicht schaffen, physisch diese möglicherweise existierenden Welten zu besuchen, aber wir können vielleicht mental dorthin reisen. Ich fand diese Gedanken äußerst inspirierend. Eine andere Sache, die ich für nachvollziehbar halte, ist die Aussage, dass das Universum nach Harmonie und Balance strebt. Jedes Ungleichgewicht, das wir spüren, hat einen Gegenpart, eine Gegenkraft, die um Ausgleich bemüht ist.
… Harmonie
Beving: Das klang eben ja schon an. Seit meiner Kindheit habe ich eine Abneigung gegen Negativität und Konflikte. Als ich später im Leben einen inneren Konflikt erlebte, war es die Musik, die mich herausholte. Ich bin glücklich, dass mir die Beschäftigung mit Musik heute immer noch – oder besser gesagt: wieder – die Kraft gibt, Harmonie in diese Unstimmigkeiten zu bringen. Es gab eine lange Phase, in der ich keine Musik spielte. Erst im Alter von 35 oder 36 Jahren, also vor etwa zehn Jahren, habe ich mich wieder ans Klavier gesetzt und auch mit elektronischen Instrumenten experimentiert. Meine Aufgabe sehe ich darin, diese Harmonie zu finden, weg von Konflikten und Opposition. Deshalb habe ich auch den Begriff „Hermetismus“ für mein neues Album gewählt. Es ist eine spirituelle Lehre, die auf antiken Schriften fußt und weiterentwickelt wurde.
… Einsamkeit
Beving: Ich liebe es, allein zu sein. Als ich noch in der Werbebranche arbeitete, also noch vor meinem ersten Album, war ich sehr diskussionsfreudig und geschäftig. Viele Unterhaltungen, viel Energie. Ich mochte das, aber auf Dauer ging es doch an die Substanz. Ich fühlte mich irgendwie fremd, im Englischen sagt man passenderweise alienated. Ich war deshalb sehr glücklich, als ich mit meiner Musik wieder ganz allein sein konnte. Die Welt und die Menschen waren weit weg, während ich am Klavier saß. Die Musik half mir, wieder in Verbindung zu treten und die Unterhaltung neu zu starten. Das Phantastische an der Musik ist ja, dass du mit einer Menge von Leuten gleichzeitig kommunizieren kannst, ohne sie zu sehen. Ich bin allein, dennoch spreche ich mit ihnen.
… die Großmutter
Beving: Ah, Sie sind gut vorbereitet! Ja, meine Großmutter war eine ganz wichtige Person in meinem Leben. Gestern noch sprachen wir von ihr. Am Abend habe ich Marina Abramović zum Dinner getroffen. Wir sprachen über unsere Familien, so kann ich einfach wiederholen, was ich gestern erzählt habe. Meine Großmutter war eine sehr eindrucksvolle Frau. Sie war ziemlich kosmopolitisch eingestellt für ihre Zeit. Sie liebte Kultur, sie spielte Klavier und wir hatten viele intensive Unterhaltungen. Als ich Teenager war, so mit zwölf oder dreizehn Jahren, schaffte sie sich ein Schimmel-Klavier an. Ich mochte es zuerst gar nicht, ich wollte laute Musik, Jazz, keine Klassik. Sie spielte immer mit dem Moderator-Pedal, ganz soft, um den Ton abzudämpfen. Wegen der Nachbarn durfte ich auch nur spielen, wenn ich das Pedal die ganze Zeit gedrückt hielt. An dem Tag, als sie starb, zog ich mit meiner Familie in ein Haus in Amsterdam. Sie hatte mir das Klavier vermacht. Es wurde angeliefert und ich habe es neu entdeckt. Das war genau zu einem Zeitpunkt, als sich viele Änderungen in meinem Leben ergaben. Ich suchte nach Essenz und Ausdruck. Ich setzte mich also an das Klavier und nutzte das „verbotene“ Pedal, das rechte, was für eine viel größere Resonanz sorgt. Sofort hatte ich das Gefühl, dass etwas mit mir passierte. Ein unfassbarer Klang mit großer Seele! Das war der Klang, den ich suchte. Ich war auf dem richtigen Weg. Bei meinem Konzert in der Elbphilharmonie habe ich auf genau diesem Instrument gespielt. Meine Großmutter war sozusagen persönlich präsent.
… Eskapismus
Beving: Ja, genau! Ich muss mir dabei selbst in die Augen schauen, muss mich fragen: Führt mich die Musik weg von der Realität? Oder trägt meine Musik zu einem tieferen Verständnis der Realität bei? Nun, es ist beides. So hoffe ich jedenfalls. Eskapismus ist auf jeden Fall dabei. Man kann es mit einem Raum vergleichen, den du betrittst und der dir Sicherheit und Geborgenheit bietet. Für eine Weile fühlst du dich gut dabei. Aber du suchst ja auch nach Erkenntnis. Dafür musst du raus, ans Licht. Um zu verstehen, dass du Teil eines großen Ganzen bist, musst du es erfahren. Alleine in der Bubble geht das nicht. Raus in die Natur, um mit ihr verbunden zu sein, ist eine gute und tiefe Erfahrung.
… Atem
Beving: Das bringt mich nochmals zum gestrigen Abend mit Marina. Für sie als Performance-Künstlerin ist der Umgang mit dem Atem ein ganz wichtiger Teil der Arbeit. Atem ist Rhythmus, ist Leben. Wir können ihn nutzen, um andere Dimensionen zu betreten. In meiner Musik nutze ich das Rubato, um dem Atem der Noten Ausdruck zu verleihen. Ich denke, das ist auch einer der Gründe, warum die Leute meine Musik als sehr „natürlich“ empfinden.
… Albert Einstein
Beving: Es ist interessant, dass viele seiner Ideen und die damit verbundenen Konsequenzen, die er postulierte, immer weiter ins Spirituelle führen. Denken Sie nur an Schwarze Löcher, die Relativität von Zeit und Raum … Das ist phantastisch! Für viele ist Einstein nicht nur wissenschaftlich von großer Bedeutung. Sein Wirken und seine Aussagen dienen auch als Inspirationsquelle, er war Verfechter einer friedlichen Welt.
… Leonardo da Vinci
Beving: Er hat so viele Dinge erfunden, die zu seiner Zeit vollkommen futuristisch waren. Ich habe vor Kurzem ein Interview mit Elon Musk gesehen. Er wurde gefragt, ob er sich als Nachfolger von da Vinci sehe. Ich weiß nicht mehr, was er genau antwortete, aber Musk ist definitiv ein Renaissance-Mensch. Jemand, der visionär ist und in Zusammenhängen denkt. Das gefällt mir. Vielleicht bin ich auch ein Renaissance-Mensch. Wobei ich mich natürlich niemals mit Elon Musk oder gar Leonardo da Vinci vergleichen würde (lacht).
… Haiku
Beving: Ich liebe Japan. Ich liebe Haiku! Ich versuche, diese Knappheit und Essenz, die ein Haiku mit Worten schafft, in meiner Musik umzusetzen. Die Kraft der Assoziation schafft Verbindung zu den Menschen und bedeutet gleichzeitig eine Freiheit, um sich auszudrücken. Es ist eine sehr raffinerte und hoch anspruchsvolle Form der Kommunikation, weil ein Haiku nicht eindimensionale Aussagen trifft, sondern vieles offen lässt. Du bist insofern nicht gezwungen, jedem Wort konkret zu folgen, sondern entwickelst deine eigenen Ideen.
… Fridays for Future
Beving: Da denke ich sofort an meine beiden Kinder. Sie sind jetzt acht und elf Jahre alt. Natürlich bin ich besorgt, was mit unserer Welt passiert. Es ist schön zu sehen, dass die junge Generation fähig ist, mit dermaßen großem Engagement für ihre eigene Zukunft einzutreten und Veränderungen lautstark zu fordern. Das ist keine apathische und angepasste Generation, im Gegenteil. Sie wissen aber auch, dass die Themen komplex sind und es enorme Anstrengungen erfordert, die Katastrophe abzuwenden. Ich will gar nicht weiter darüber nachdenken, das ist so düster. Es ist wirklich schlimm, was wir mit unserem Planeten angestellt haben.
… Sonnenblumen
Beving: Je nach Sonnenstand wenden sie sich zum warmen Licht hin. Das ist doch ein wunderschönes Bild! Ich beziehe das einfach mal auf mich. Ich versuche, das Licht zu finden. Wir sind von so viel Dunkelheit umgeben, die die Balance stört. Wie ich eben schon gesagt habe: Wir müssen die Dinge wieder ins Gleichgewicht bringen. Es sollte immer die Hoffnung geben: Morgen wird es besser. Wenn dir das wichtig ist, musst du es zeigen und dich dafür einsetzen. Nur so kann es zur Realität werden.
… Zeit
Beving: Zeit ist flexibel. Oder sie existiert nicht, je nach Betrachtung. In Bezug auf die Musik ist Zeit etwas Essenzielles, in der Interpretation des Künstlers wie auch der Rezeption des Zuhörers. Sie kann gedehnt, aber auch komplett gelöscht werden. Sie kann helfen, aus der in Zahlen definierten und begrenzten dritten Dimension auszubrechen, hin zur vierten Dimension, eben der Zeit. Sie erlaubt uns, das Physische abzulegen und Zugang zum Unbekannten oder auch Unterbewussten zu erlangen. Alles eine Sache der Übung. Ich übe das täglich am Klavier.