John Axelrod hat viele, sehr viele Ideen, wie man Orchester für die Gesellschaft wieder relevanter machen könnte. Beim lebendigen Gespräch im Cafe Einstein Unter den Linden in Berlin malt der amerikanische Dirigent zunächst den Teufel „Tod der Klassik” an die Wand, um dann mit viel Esprit eine Reihe von Rettungsvorschlägen zu machen. Nicht alle scheinen umsetzbar, doch wichtige Denkanstöße sind Axelrods Überlegungen allemal.
Herr Axelrod, in Ihrem Buch „Wie großartige Musik entsteht“ erleben wir Sie als Dirigenten-Experten. Ich möchte daher mit einer Quizfrage beginnen: Ich besuchte kürzlich die Berliner Philharmonie, es spielte ein britisches Orchester Werke von Ives, Feldmann und Copland und der amerikanische Dirigent hielt vor jedem Stück eine kleine Ansprache. Wer könnte das gewesen sein?
John Axelrod: Michael Tilson Thomas?
Treffer.
Axelrod: Oh, gleich beim ersten Versuch. Es hätte aber auch John Adams sein können oder Marin Alsop. Auffällig war, dass Sie erwähnten, dass er sich an das Publikum gewandt hat.
Würden Sie auch Ansagen machen, vom Dirigentenpult aus?
Axelrod: Natürlich. Manchmal mache ich das vor dem Konzert, mal zwischendrin oder danach, wobei das natürlich vom Repertoire abhängt. Es macht wenig Sinn, wenn ich mich zu einem deutschen Publikum umdrehe, um dann über eine Brahms-Sinfonie zu sprechen. Aber bei Ives oder Copland, die vielleicht nicht jedem bekannt sind, ist das gerechtfertigt. Umgekehrt muss ich allerdings sagen, dass das amerikanische Publikum in jedem Fall so eine Ansprache gebrauchen kann, selbst wenn es um Bernstein oder Copland geht. Vielleicht sind amerikanische Dirigenten deshalb auch etwas entspannter, was die Kommunikation mit dem Publikum betrifft.
Wie ist Ihr Verhältnis zum Publikum?
Axelrod: Ich spreche gerne direkt mit den Menschen, zum Beispiel wenn ich nach dem Konzert CDs signiere. Ich halte es für gefährlich, von oben auf das Publikum herabzuschauen, wir sollten unsere Zuhörer nicht bevormunden, denn letzten Endes hat das Publikum ja die Macht.
Das oben erwähnte Konzert mit Tilson Thomas und dem London Symphony Orchestra war wider Erwarten nur zur Hälfte ausverkauft. Was macht ein Konzertprogramm erfolgreich?
Axelrod: Das ist schwierig zu beantworten, da es von unterschiedlichen Publika unterschiedliche Erwartungen gibt. Das junge Publikum ist offener für ein eher progressives Programm, die aus der älteren Generation haben hohe Erwartungen an ein Repertoire, das sie bereits kennen. Außerdem hängt viel vom Engagement der Musiker ab. Wenn Sie Beethovens Fünfte spielen und das Engagement der Musiker stimmt, dann wird das Publikum verstehen, warum es eines der größten Meisterwerke ist, das je komponiert wurde. Die Konzertbesucher kennen den Unterschied zwischen einer guten und einer großartigen Aufführung. Wir hingegen müssen die Zuhörer noch besser kennen lernen: Wer ist unser Publikum und was will es?
Welche Versuche haben Sie bislang unternommen, den Bedürfnissen des Publikums entgegen zu kommen?
Axelrod: Ich habe zum Beispiel in der nächsten Saison ein Konzert, das auf „Pelléas et Mélisande“ basiert. Es gibt Musik von Debussy, Fauré und Sibelius – und dazu habe ich ein Werk bei Alexandre Desplat in Auftrag gegeben. Er ist einer der wichtigsten Filmkomponisten, die Leute kennen ihn zum Beispiel durch die „Harry Potter“-Filme. Und die Idee, dass jemand, der bei einer Filmkomposition sehr programmatisch denken muss, nun die Freiheit bekommt, eine Sinfonische Dichtung zu schreiben, finde ich sehr interessant.
Sollten sich Orchester bei der Programmauswahl also mehr mit Publikumswünschen auseinandersetzen?
Axelrod: Also, mir geht es jetzt nicht um einen Repertoirewechsel. Beethoven ist nicht das Problem, sondern die Form, wie er präsentiert wird. Viele Menschen fühlen sich von Klassik-Konzerten nicht angesprochen. Deshalb habe ich zum Beispiel vor 15 Jahren in Houston das „Orchestra X“ gegründet: wir haben für ein junges Publikum ein interaktives Konzertumfeld geschaffen, damit sie sich mit dieser Klassik-Erfahrung identifizieren können. Es gab Internet-Übertragungen, Aftershow-Partys, die Leute konnten in lockerer Garderobe kommen und ein Konzert stand unter dem Motto „Beer, Barbecue & Beethoven“.
Ist es denn schwer, Orchester-Manager von neuen Konzertformen zu überzeugen?
Axelrod: Ja, Wandel kommt nun mal langsam. Viele Leute wollen das Risiko nicht eingehen, das bestehende System zu verändern. Wir agieren ja in einem eher konservativem Umfeld, es gibt ein traditionelles Publikum, dem du genügen musst, es gibt ein Paradigma, wie Klassikkonzerte stattfinden – und wenn es bisher immer so gemacht wurde, dann scheuen die Menschen Veränderungen. Aber wir sind inzwischen an einem kritischen Punkt angelangt: Beim Indianapolis Symphony Orchestra streiken die Musiker wegen Lohnkürzungen, das gleiche geschieht in Minnesota, das Philadelphia Orchestra ist knapp am Bankrott vorbeigeschrammt, in Deutschland mussten in den letzten Jahren mehrere Orchester fusionieren, zuletzt die Orchester des SWR aus Stuttgart und Freiburg/Baden-Baden und in Berlin fragt man sich immer wieder, ob man sich drei Opernhäuser leisten kann, die das gleiche Repertoire spielen.
Wie wäre Ihre Antwort?
Axelrod: Meine Antwort lautet: Ja. Aber das Publikum muss stärker eingebunden werden.Bei manchen Intendanten hat man das Gefühl, sie behandeln die klassische Musik wie ein nationales Sicherheitsgeheimnis, das Publikum hat dort keine sozial relevante Rolle. Ich denke zum Beispiel, dass man Konzertgänger nicht nur als Abonnenten gewinnen kann, sondern auch als Auftraggeber neuer Werke. Das Orchester wiederum könnte Bildungskonzerte geben, Salons für die Gemeinschaft, wo sich die Musiker aktiv engagieren, wo auch das Engagement der Zuhörer gefragt ist. Die Trennung zwischen Orchester und Publikum, ein System, in dem die Musiker bezahlt werden, ganz gleich viel Einsatz sie zeigen und egal ob jemand zuhört oder nicht, bedroht die Zukunft der Klassik.
Welche Vorbilder gibt es?
Axelrod: Ein positives Beispiel ist das Bildungsprogramm El Sistema, das in Venezuela viele junge Menschen ausgebildet und zu fantastischen Musikern gemacht hat. Davon inspiriert hat Gustavo Dudamel in Los Angeles das YOLA-Programm gestartet, das heute in der dortigen Community ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Auch Simon Rattle hat sich mit seinen Initiativen in Berlin sehr gut eingebracht. Wir befinden uns heute in einer Laborsituation, wir müssen verschiedene Experimente wagen – und mein Buch ist mein Beitrag zu dieser Debatte. Eines ist klar: Wenn es keine Verbindung zwischen dem Orchester und der Gemeinschaft gibt, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Budgets weiter gekürzt werden.
Ist Ihr Buch für Ihre Orchestermusiker Pflichtlektüre?
Axelrod: Nein, ich dränge ihnen das nicht auf. Wer will, kann es lesen und wenn mir jemand zustimmt freue ich mich. Leider haben viele Orchestermusiker – aufgrund des Paradigmas, in dem wir die letzten 50 Jahre operiert haben – die Einstellung: Das hier ist mein Job bis zur Rente, ich erfülle meinen Vertrag und wenn ich bezahlt werde, spiele ich.
Bei denen dürfte Ihr Vorschlag, Orchester wie Fußballvereine zu organisieren, auf wenig Gegenliebe stoßen.
Axelrod: Ja, ich bin mir sicher, dass die Orchester, die Gewerkschaften und Verwaltungen diesen Vorschlag zurückweisen. Gleichwohl denke ich, dass so ein System viele Arbeitsplätze schützen würde, die Löhne wären besser gesichert, es würde die Qualität steigern und die Rolle des Publikums stärken.
Das müssen Sie erklären.
Axelrod: Angenommen Sie sind Profisportler, Roger Federer oder ein Spieler bei Bayern München, dann werden Sie ungefähr mit 35 aufhören, weil Ihr Körper die Leistung nicht mehr bringen kann – danach werden Sie dann zum Beispiel Trainer oder Sportkommentator. Orchestermusiker dagegen haben ein Probespiel und dann ihren Job bis zur Rente. Hier könnte man etwas ändern, so dass die Musiker nach einer bestimmten Zeit, sagen wir nach drei oder fünf Jahren, wieder zum Probespiel müssen, um ihren Vertrag zu erneuern – wie ein Sportler.
Was erhoffen Sie sich davon?
Axelrod: Stellen Sie sich vor, was das für einen Wettbewerb das auslösen würde. Wenn Sie in einer Fußballmannschaft sind und der Spieler neben Ihnen verdient im Jahr fünf Millionen mehr als Sie, dann werden Sie schließlich auch härter arbeiten, um so viel zu verdienen. Wenn alle Musiker so eine Frist in ihren Verträgen hätten, dann müssten sie auch zeigen, dass sie noch die Qualität bringen können, die das Publikum fordert. Und Sie können die Bezahlung steigern, abhängig vom Wert des Musikers für das Orchester.
Und jemand, der beim Probespiel nicht mehr überzeugen kann, muss das Orchester verlassen?
Axelrod: Nein, diese Leute haben ja trotzdem unglaubliche Erfahrung, Musikalität und Wissen zu teilen. Warum nicht ein anderes Orchester gründen, nur für diese Musiker? Meine Idee ist, dass das A-Orchester wie eine Schirmorganisation funktioniert, unter der es auch ein Jugendorchester, ein Akademie-Orchester und ein Seniorenorchester geben kann. Wenn Sie sich den FC Barcelona oder den FC Bayern anschauen, die haben eigene Fußballakademien, wo sie ihren Nachwuchs rekrutieren. Mit so einer Struktur hätte ein Orchester eine andere Bedeutung, einen anderen Sinn für die Gesellschaft.
Aber ein Orchester mit mehreren Unterorchestern – das klingt nach einem enorm hohen Finanzbedarf, der sich heute nur schwer decken lässt.
Axelrod: Ja, aber die Öffentlichkeit wäre so mehr involviert. Und sie wird dann vielleicht auch eher willens sein, ein Orchester zu unterstützen.
Doch der Zuschauer würde sich vermutlich immer nur das A-Orchester anhören wollen.
Axelrod: Warum? Die Jugendorchester zum Beispiel sind heute sehr gefragt. Und vielleicht dirigiert ein Simon Rattle dann auch das Akademie- oder das Seniorenorchester. Das sind aber alles nur Vorschläge, ich habe da jetzt keine Details ausgearbeitet. Ich denke nur, dass eine Debatte über dieses Thema notwendig ist.
Sie sprachen über den Wettbewerb unter Orchestermusikern, wie sieht es mit der Konkurrenz unter Dirigenten aus? Redet man zum Beispiel über Geld, über Gagen?
Axelrod: Auf jeden Fall, wir wissen, wer der bestbezahlte Dirigent auf der Welt ist, und wer am wenigsten bekommt. (lacht) Dirigenten tauschen sich heute häufiger aus. Früher hat man sich vielleicht mal backstage getroffen und die Hand geschüttelt, heute kommuniziert mal viel über das Internet, man tauscht sich auf Facebook aus, über Orchester, Solisten… Also, ich würde sagen, es gibt unter Dirigenten einen gesunden Wettbewerb, deshalb reichen die Gagen auch von sehr hoch bis sehr niedrig.
Wie ist es eigentlich, wenn man als Dirigent im gleichen Hotel wie das Orchester wohnt? Trifft man sich dann abends noch an der Bar oder wahrt man lieber Distanz?
Axelrod: Das ist ganz unterschiedlich. Ältere Generationen haben mir schon geraten, nicht zu viel Kontakt mit den Musikern zu haben.
Warum?
Axelrod: Es gibt dieses Verständnis: Du bist der Chef, verstehe deine Position, werde mit den Musikern nicht zu freundlich, weil ansonsten jeder individuell etwas von dir will. Als Dirigent ist es deine Aufgabe, das Große Ganze aufzubereiten, für Uniformität zu sorgen. Und je mehr du mit Musikern auf einem persönlichen Level kommunizierst, desto eher läufst du Gefahr, Konflikte zu schüren, es entsteht ein Verdacht der Bevorzugung usw. Dieses Problem gibt es aber überall, in jedem Unternehmen, nicht nur in einem Orchester.
Wie gehen Sie damit um?
Axelrod: Ich spreche Orchestermusiker gerne mit ihrem Vornamen an oder umarme sie zur Begrüßung. Manchmal funktioniert das, manchmal nicht, je nachdem, wo man sich gerade befindet. In Italien umarmt man sich viel, in der Schweiz wahrt man lieber die Distanz. Da heißt es dann: Sie sind hier, um zu dirigieren und nicht um den Kumpel zu spielen. – Wobei das auch seltsam ist, vergleicht man es beispielsweise mit Spitzenpolitikern. Von denen möchten wir einerseits, dass sie sich präsidial verhalten, doch genauso sollen sie sich auch von ihrer menschlichen Seite zeigen. Dirigenten dagegen sind sehr von diesem Mythos umgeben, nicht menschlich zu sein. Deshalb war es mir auch wichtig, in meinem Buch gerade diese menschliche Seite zu zeigen, einmal den Vorhang aufzuziehen und zu berichten, was hinter der Bühne geschieht.