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Interview Julia Bullock

„Engagieren, unterhalten, ausprobieren!“

Sopranistin Julia Bullock sucht das Zusammenspiel der Künste, erforscht mit Leidenschaft auch die Nischen der Musik und sieht sich gesellschaftlich in der Verantwortung.

vonRoland H. Dippel,

Unter Chefdirigent Alan Gilbert elektrisierte sie das Publikum beim traditionellen Silvesterkonzert 2022 in der Elbphilharmonie. Julia Bullock verbindet nicht nur auf ihrem Solo-Debütalbum „Walking In The Dark“ um Samuel Barbers „Knoxville: Summer Of 1915“ überraschend Werke von John Adams, Oscar Brown Jr., Billy Taylor und Sandy Denny. Die aus St. Louis, Missouri, stammende Sopranistin trat in Musiktheater-Werken wie Adams’ „Girls of the Golden West“ und Hans Werner Henzes „El Cimarrón“ auf. Führende internationale Medien rühmen das politische ­Bewusstsein und Engagement von Julia Bullock, ihre ambitio­nierte Programmgestaltung und vor allem ein überwältigendes stimmliches Charisma.

Seit der Pandemie leben Sie in München, das den Ruf eines sehr harmonischen Lebensraums ohne die sozialen Risse anderer Städte hat. Wie passt das mit Ihrem Image als politische Aktivistin zusammen?

Julia Bullock: Mein Ehemann, der Dirigent Christian Reif, kommt aus Stephanskirchen in Oberbayern. Ich liebe diese Region sehr und freue mich darauf, diese ebenso gut zu kennen wie den Englischen Garten. Aber München ist für Berufsmusiker der bessere Wohnort. Außerdem haben wir jetzt ein Baby und ich will mich in Deutschland stärker vernetzen.

Mit Ihrem Solo-Debütalbum „Walking In The Dark“ haben Sie Ihren exzeptionellen Ruf einer auf jüngere und Neue Musik spezialisierten Sängerin verstärkt. War das Vorsatz wie zum Beispiel bei Barbara Hannigan, die ihre Karriere als Expertin für Gegenwartsmusik entscheidend beschleunigen konnte?

Bullock: Nein. Das hat sich vielleicht zwangsläufig ergeben, war aber kein langfristiger Plan. Schon während meiner Studienzeit hatte ich Programme mit sehr großer Sorgfalt und Achtsamkeit zusammengestellt, verworfen und verändert. Es ging mir immer darum, meinen Auftritten einen einmaligen und unverwechselbaren Charakter zu geben. Mit Gegenwartsbezug. Die Vorliebe für ältere oder neue Musik, für Standardwerke oder Unbekanntes war für mich kein Kriterium. Viel wichtiger ist mir der sinnstiftende rote Faden zwischen den ­Stücken.

Die Sängerin als Trägerin einer Idee?

Bullock: So stark möchte ich das nicht formulieren. Aber ich gehe immer davon aus, was ich meinem Publikum mitteilen möchte. Natürlich bieten auch ­romantische Komponisten wie Strauss und Verdi große ­dramatische Ressourcen und hochemotionale Musik. Wie viele Kolleginnen und Kollegen komme ich immer wieder auf Mozart zurück. Das machen aber zu viele.

Julia Bullock lebt mit Mann und Baby in München
Julia Bullock lebt mit Mann und Baby in München

Ist heute eine Karriere mit unbekanntem Nischen-Repertoire einfacher als vor fünfzig Jahren?

Bullock: In sehr speziellen Konstellatio­nen ging das bereits damals –  zum Beispiel bei Cathy Berberian, der Frau von Luciano Berio. Aber es war damals tatsächlich viel schwieriger. Heute können wir Gleichgesinnte in den sozialen Medien finden oder durch Streams gewinnen. Das ist zwar zeitaufwändig, aber der Erfolg nicht unwahrscheinlich.

Wie war die Resonanz auf Ihr noch immer in Mediatheken abrufbares Konzert in der Bayerischen Versicherungs­kammer München?

Bullock: Das kennen Sie? Ja, dieses Konzert ist ein ideales Beispiel für heutige Möglichkeiten. Es gab im November 2021 außerdem ein ergänzendes Gesprächskonzert zum Thema „Musik und Diversity. Wie können wir die Klassik vielfältiger gestalten?“. Diversity war für den Pianisten Bretton Brown und mich der Faden durch Stücke von Connie Converse, Kurt Weill, Billie Holiday, Gioachino Rossini und Nina Simone. Dieses Konzert war in der Verbindung von Rundfunk, Stream, Mediathek und vor allem mit einer von den Veranstaltern ausdrücklich gewünschten individuellen Programmgestaltung ein wunderbares Projekt. Ich konnte es sehr gut zur Stabilisierung meiner Karriere während der Pandemie nutzen. Dabei ist „Karriere“ wahrscheinlich das falsche Wort. Bei solchen Projekten gewinnt man eine mediale Breitenwirkung und auch das Knowhow, solche Wunschideen umzusetzen. Die sozialen Grenzen während der Pandemie forderten dazu heraus, Fertigkeiten für solche Gelegenheiten zu lernen und zu entwickeln.

Sie haben Erfahrungen als Kuratorin für Kunstprojekte …

Bullock: Das ergab sich aus meiner ­Eigenschaft, dass ich immer so penibel durch Programmgestaltungen beschäftigt war. Für mich beinhaltet diese Beschäftigung auch die Suche nach der inneren Verwandtschaft von Musikstücken oder Beziehungen zwischen Werken verschiedener Kunstsparten. Vermittelnde Schnittstellen zwischen Musik und Kunstpraxis gibt es zunehmend.

Schließt das Kulturvermittlung für junge Menschen ein oder geht es Ihnen um künstlerische Installationen mit Eigenwert?

Bullock: Diese Frage stelle ich mir zu Beginn einer spartenübergreifenden Arbeit nicht. Dazu waren die Projekte zu unterschiedlich, an denen ich bisher für Kunstprogramme von ­Museen und Schulen mit San Francisco Symphony, an der Londoner Guildhall School of Music and Drama und am New Yorker Metropolitan Museum of Arts mehrfach über einen längeren Zeitraum mitwirkte. Ich wurde mit verschiedenen pädagogischen Strategien vertraut. Persönlich glaube ich an eine durch Kultur zu stärkende Wachstumskraft der Menschen. Dafür gibt es drei Schlagwörter: engage, entertain, essay – engagieren, unterhalten, ausprobieren. Das ist alles.

Hat Erfahrungen als Kuratorin für Kunstprojekte: Julia Bullock
Hat Erfahrungen als Kuratorin für Kunstprojekte: Julia Bullock

Nehmen Sie Unterschiede in der Entwicklung des klassischen Konzertlebens zwischen Amerika und Europa wahr, seit Sie in Bayern leben?

Bullock: Bisher ist mir noch nichts ­Außergewöhnliches aufgefallen. Das Publikum hier ist sehr ­begeisterungsfähig. Im klassischen Repertoire kann ich mich auf Werke konzentrieren, die mir persönlich wichtig sind. Natürlich verschiebt sich das Repertoire in Europa und in Amerika. Das ist wichtig, weil auch die Gegenwartsmusik zu einem angemessenen Teil präsent sein soll. Es gibt neben dem Repertoire bis Strauss und Berg, aus dem sich viele Kolleginnen und Kollegen immer wieder bedienen, so viel anderes. Leider habe ich zum ­Recherchieren zu wenig Zeit. Ich wünsche mir, in meinem musikalischen Leben noch auf viele interessante Dinge zu stoßen.

Haben Sie bei Ihrer Repertoire-Gestaltung Vorbehalte gegen toxische Eigenschaften von Komponisten, zum Beispiel Richard Wagners oder Giacomo Puccinis Umgang mit Frauen?

Bullock: Generell nicht. Anstelle einer intuitiven Abneigung nachzugeben, versuche ich den sachlichen und historischen Zusammenhang zu verstehen. Oft haben der Text und das musikalische Material eines Werks nichts mit der Haltung eines Komponisten zu tun, die das Resultat seiner Lebenszeit ist. Man muss immer untersuchen, mit welchem historischen und sozialen Hintergrund Menschen zu ihren Meinungen gelangt sind. Was ist aus ihrem Leben und ihrer Philosophie konkret in ihre Kunstwerke, Texte und Kompositionen eingeflossen? Dafür sollte man sich öffnen und damit arbeiten. Dann erst kommt die Frage, ob mich der Mensch provoziert und abstößt.

Auch in Ihrem Musiktheater-Repertoire bemerkt man das Fehlen von Frauenpartien der Romantik. Haben Sie Vorbehalte?

Bullock: Eigentlich nicht. In der Regel sind diese Figuren, aus ihrer Entstehungszeit heraus betrachtet, sehr individuell. Das Entwickeln eines existenziellen Widerstands gegen geschlechtliche Rollenzwänge und Konventionen fällt mir in Opern von Mozart und Verdi stark auf. Diese harten Storys sollte man unbedingt mit ­angemessener Deutlichkeit darstellen und verständlich machen.

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Album Cover für Walking In The Dark

Walking In The Dark

Julia Bullock (Sopran) London Philharmonic Orchestra Christian Reif (Leitung) Nonesuch

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