Mitten in der Nacht klingelte beim 26-jährigen Musikstudenten Tan Dun in Peking das Telefon: Eine Parteisekretärin teilte ihm mit, dass er im fernen Dresden einen Kompositionspreis gewonnen hatte. Dieser Anruf im Jahr 1983 war der Startschuss von Tan Duns internationaler Karriere als Komponist. 2001 erhielt er für seine Filmmusik zu „Tiger and Dragon“ den Oscar, 2006 wurde an der New Yorker MET seine Oper „The First Emperor“ mit Plácido Domingo in der Hauptrolle und unter der Leitung von James Levine uraufgeführt. Nun steht bei den Dresdner Musikfestspielen die Uraufführung seiner „Buddha Passion“ bevor.
Tan Dun, Ihre Rahmen sprengende „Buddha Passion“ steht während unseres Gesprächs acht Wochen vor ihrer Uraufführung. Wie laufen die Proben?
Tan Dun: Tatsächlich habe ich gestern die letzte Note des Werkes niedergeschrieben. Wir sind jetzt dabei, das Libretto, das in Sanskrit und Chinesisch gehalten ist, noch ins Deutsche übersetzen zu lassen. Anfangs wollte ich das Werk noch in englischer Sprache komponieren. Doch nachdem ich den zweiten Akt auf Englisch fertig hatte, merkte ich, dass die ewigen Dinge, um die das Werk kreist – die Träume, die Seelen und so weiter – für mich schwer in englische Worte zu fassen sind. Ich habe lange mit mir gerungen, aber dann habe ich mich entschieden, das Libretto in Sanskrit und Chinesisch zu verfassen. Sanskrit ist so wunderschön! Die Sprache balanciert die Sprache der Musik aus. Stellen Sie sich einen gregorianischen Choral auf Englisch gesungen vor – das hat keinen Sinn.
Der Titel Ihres Werks deutet es schon an: Es handelt sich um eine Passionsgeschichte, die allerdings nicht um Jesus, sondern um Buddha kreist. Können Sie das genauer erklären?
Dun: Richtig, das klingt erst einmal seltsam. Mit dieser Komposition wird das erste Mal überhaupt eine Buddha-Passion erzählt. Der Buddhismus kam vor zweitausend Jahren nach China. Vor fünfhundert Jahren wurde er fast zur Staatsreligion erklärt. Heutzutage bestimmt er zu einem großen Teil das spirituelle Leben vieler Chinesen. Die chinesischen Philosophen und geistigen Führer haben ihre eigene Version der Religion im „Zen-Stil“ entwickelt. Analog dazu ist auch mein Werk aufgebaut: Die erste Hälfte befasst sich mit drei uralten Geschichten indischer Prägung. Die zweite Hälfte beschäftigt sich eher mit Buddha als Zen-Gottheit.
Sechs Akte hat das Werk insgesamt, Sie schreiben im Libretto von einer „Oper“. Es scheint also ein bisschen zwischen den Genres zu irrlichtern.
Dun: Tatsächlich wird die „Buddha Passion“ bei ihrer Uraufführung in Dresden wie ein Oratorium präsentiert. Aber in der dramatischen Struktur gleicht sie einer Oper. Das ganze Konzert besteht aus sechs Kurzgeschichten. Natürlich sind sie alle inhaltlich miteinander verbunden. Man kann sie aber auch einzeln aufführen! Stellen Sie sich den Kurosawa-Film „Dreams“ vor, der aus sechs Abschnitten besteht. Sie sind unabhängig voneinander, aber eine Geschichte setzt sich in ihnen immer weiter fort. Oder denken Sie an die „Matthäus-Passion“. Nach dem Abendmahl ist die eine Geschichte eigentlich abgeschlossen, das Werk könnte hier enden. Aber man kann es eben auch weiterspinnen.
Die „Matthäus-Passion“ basiert auf Texten des Matthäus-Evangeliums, dazu kommen die Choraltexte. Wie ist das Libretto der „Buddha Passion“ aufgebaut – und welche Texte haben Sie als Grundlage verwendet?
Dun: Zuerst einmal gibt es einen großen Chor, der fantastische Vokalisen mit historischen Klängen aus Indien und China anstimmt. Hinzu tritt eine sehr reiche Orchestrierung. Die Geschichten werden von einigen spirituellen Hauptcharakteren getragen, die teilweise auf den Bildern der uralten Höhlen wiederzufinden sind, die in China entdeckt wurden. Unter den Sängern befinden sich vier klassische Solisten im traditionellen Sinn: Sopran, Mezzosopran, Tenor und Bass. Die anderen Solisten wiederum fungieren als Legenden-Erzähler. Einer von ihnen wird den Kehlgesang tibetanischer Mönche singen. Sein Charakter in der Geschichte ist ein musikalischer Mönch, der auch Instrumente spielen kann …
… die Sie von den alten Höhlenmalereien rekonstruiert haben.
Dun: Es handelt sich dabei um die Malereien in den Mogao-Grotten. Das sind hunderte Höhlentempel in der chinesischen Stadt Dunhuang, einer wichtigen Oasenstadt der Seidenstraße. Seit dreißig Jahren sind die fast fünfhundert Höhlen Weltkulturerbe, und sie sind wirklich ein fantastisches Weltwunder! Man findet hier über viertausend Wandgemälde, auf denen auch zahlreiche Musikinstrumente zu sehen sind. Und: Es gibt auch alte Handschriften mit über einhundert Stunden Musik. Heute sind diese in verschiedene Länder verstreut, die meisten befinden sich in den Nationalbibliotheken Frankreichs und Großbritanniens. Zwei Jahre habe ich damit verbracht, sie zu prüfen und zu erforschen. Ich versuchte, die musikalische Sprache zu entziffern, und konnte so interessantes Liedmaterial, Melodien und Klangfarben in mein Orchestermaterial einarbeiten.
Erstaunlich, dass die westliche Musikwelt von diesem einzigartigen Zeugnis noch nicht so richtig Notiz genommen hat.
Dun: Nicht wahr? Diese Höhlengemälde verschieben die Geschichte des Orchesters mal eben um eintausend Jahre nach vorn. Auf einmal sehen wir auf den 1500 Jahre alten Bildern wunderbare Zeugnisse von großen Orchestern, die man auch damals schon in Abteilungen untergliederte mit Zupfinstrumenten, Schlagwerk, Bläsern und Streichern.
Kann man diese Wandgemälde denn in der Bühnengestaltung der Dresdner Uraufführung wiederfinden?
Dun: Daran arbeiten wir mit einem Digitalisierungs-Künstler für spätere Aufführungen. Diese wunderbaren Bilder muss das Publikum unbedingt zu Gesicht bekommen. Es ist ja so: Dunhuang war die wichtigste Oasenstadt der Seidenstraße. Die Europäer, die nach China wollten, müssen hier vorbeigekommen sein und haben in diesen Höhlen gelebt. Als ich diese Bilder mit Einflüssen aus China, aus Persien, aus Istanbul, aus Europa sah – das war einfach ein Wunder! Es war für mich zutiefst inspirierend.
Der Auftrag für das neue Werk kam aber erst später.
Dun: Ja. Vor etwa zehn Jahren habe ich begonnen, mich rein akademisch mit den alten Manuskripten aus Dunhuang zu beschäftigen. Von einem rein musikalischen Standpunkt aus machte mich diese Arbeit schier verrückt vor Glück. Und dann passierte vor fünf Jahren Folgendes: Das Theater in Shanghai bewarb sich um eine Aufführungslizenz der „Matthäus-Passion“, die bis dahin niemals in China erklungen war. Die zweitausend Tickets waren innerhalb von drei Stunden verkauft. Nach der Vorstellung traf ich mich mit einigen der Musiker, die mich fragten, wo der chinesische Künstler sei, der endlich mal eine Buddha-Passion schreibt, nachdem sich Jahrhunderte lang zahllose Künstler mit dem Leiden Jesu befasst haben. Irgendwann kam die Frage auf, ob ich nicht der erste Komponist eines solchen Werkes sein könnte. Ich war sprachlos. Bis zu jenem Tag hatte ich nie darüber nachgedacht, eine Passion zu schreiben, und dann kommen diese Deutschen … Ich sagte ihnen: Eines Tages werde ich eine Buddha-Passion schreiben, versprochen. Also machte ich mich ans Werk. Als die Idee schon recht weit gediehen war, hat sich mein Verlag dann an die Dresdner Musikfestspiele gewandt …
… wo sich für Sie persönlich auch ein Kreis schließt: Ihre internationale Komponistenkarriere begann nämlich bei den Dresdner Musikfestspielen, die nun die Uraufführung Ihrer „Buddha Passion“ auf die Bühne bringt.
Dun: Das war eine Riesengeschichte und ist jetzt 35 Jahre her. Für mein Leben war das ein wesentlicher Meilenstein. Zu dieser Zeit hatte Ostdeutschland mit den Musikfestspielen ein bedeutendes Musikfestival. Mein Streichquartett Feng Ya Song wurde mit dem Carl-Maria-von-Weber-Preis ausgezeichnet, und ich war der erste chinesische Komponist überhaupt, der jemals auf einem internationalen Festival ausgezeichnet wurde. Jetzt komme ich nach Dresden zurück, 35 Jahre später. Für mich ist diese Stadt mein musikalisches Jerusalem!
Können Sie sich noch an das Dresden zu Beginn der Achtzigerjahre erinnern?
Dun: Absolut. Man kann ja sagen, Dresden war die erste europäische Stadt, die mich wahrnahm. Damals war Winfried Höntsch der Leiter des Festivals, Siegfried Köhler als Jury-Vorsitzender und Rektor der Musikhochschule hat mir den Preis überreicht.
Was geschah nach Ihrem Dresden-Besuch?
Dun: 1986 ging ich zum Studieren nach New York. Zwanzig Jahre habe ich dort gelebt. Inzwischen verbringen meine Frau und ich die meiste Zeit in Shanghai, weil meine Frau aus dieser Stadt stammt. Ich habe dort auch ein Studio, das in den letzten Jahren meine „Basis“ geworden ist. Aber natürlich bin ich nach wie vor auch oft in New York um zu komponieren, und ich dirigiere und reise um die ganze Welt. Was für eine Story, oder?
Tan Dun dirigiert seine „Internet Symphony Eroica“: