Konstantin Lifschitz‘ Interessen sind breit gefächert, doch seine Liebe gehört Bach. Zuletzt hat er die Kunst der Fuge aufgenommen. Der 35jährige Russe wohnt in Berlin und Luzern, wo er 2008 eine Professur übernommen hat.
Bach: Die Kunst der Fuge. Contrapunctus I
Pierre-Laurent Aimard (Klavier) 2007
Deutsche Grammophon
Es gibt eine Aufnahme von Aimard, die ich nicht kenne. Aber die ist es nicht, oder? Die Aufnahme hat einen schönen Klang und es gibt schöne Momente, aber es klingt unausgeglichen und ist mir insgesamt etwas zu zerhackt. Er ist so fixiert auf die Themenerscheinungen, dass der musikalische Fluss etwas verloren geht. Ich will schon mit meinem Ohr auf die Themeneinsätze reagieren, aber nicht so didaktisch darauf gestoßen werden. Wunderschön finde ich die Aufnahme von Musica Antiqua, und die von Calefax, einem holländischen Bläserensemble, hat für mich sehr zur Klarheit beigetragen. Die Kunst der Fuge und das Musikalische Opfer hatten schon immer einen ganz besonderen Stellenwert für mich.
Haydn: Sonate Nr. 60 D-Dur, Hob. XVI: 50
Tzimon Barto (Klavier) 2008
Ondine
Das ist weder Brendel noch András Schiff, oder? Aber sehr schön. Das ist kein junger Pianist, und es ist keine Frau. So viel reservierten Humor hat keine Frau. Ein sehr schöner Klang. Sehr frisch und erfrischend, wunderschön! Sehr reif, nichts ist unbedacht gespielt. Ein Amerikaner, sagen Sie? Ist es Tzimon Barto? Ich habe ihn nie mit Haydn gehört. Respekt! Mich reizen die erquickenden Momente, ich bin ein großer Fan von Haydn, er ist in gewissen Dingen noch wichtiger als Mozart, finde ich.
Prokofjew: Klavierkonzert Nr. 3 D-Dur
Sergej Prokofjew (Klavier)
London Symphony Orchestra
Piero Coppola (Leitung) 1932
Naxos Historical
Sehr gutes Orchester… Das ist Prokofjew selbst! Die Aufnahme habe ich als Kind gehört. Ich habe mich ein bisschen mit der Persönlichkeit Prokofjews beschäftigt, seine Tagebücher gelesen, ihn viel gespielt. Ich habe ihn an der Akkord-Stelle erkannt. Die Akkorde klingen bei jedem Pianisten anders. Ich habe dieses Konzert auch einmal mit dem London Symphony Orchestra gespielt. Sie klingen nicht mehr so wie damals, aber es ist von allen englischen Orchestern das musikalischste. Das hören Sie vom ersten Klarinettensolo an, dann kommen die Geigen und imitieren das so plastisch. Ja, das ist eine klassische Aufnahme. Prokofjew war mir immer sympathisch, zunächst als Mensch, wenn Sie seine Tagebücher lesen, merken Sie, er war auch literarisch höchst begabt, hat sich für viele Dinge interessiert. Er war vielleicht nicht sehr bequem als Zeitgenosse, aber er hat mich immer fasziniert. Er schreibt irgendwo: Meine Musik steht außerhalb von Zeit und Raum. Das Ironische, die brutale Seite, das Lyrische, das ist mir alles gleich nah.
Skrjabin: Klaviersonate Nr. 3
Evgeny Kissin (Klavier) 2004
RCA Red Seal
Skrjabin spiele ich nicht mehr so oft, diese dritte Sonate habe ich nie gespielt. Das ist ein russischer Pianist. Aber keiner aus der ersten Liga, denke ich. Nicht vom Rang eines Richter oder Gilels, die diese Sonate nie gespielt haben. Und Sofronitzky ist es auch nicht. Sagen Sie es mir. Das ist kein Stück für Kissin! Wenn man im Elfenbeinturm lebt, wie soll man etwas von Weltkonflikten verstehen? Diese Sonate ist wie die Ahnung eines Krieges, so sehe ich sie. Skrjabins Welt ist mir ein bisschen fremd geworden, Rachmaninow, Schostakowitsch, Prokofjew, Tschaikowsky, Medtner liegen mir näher.
Rameau: Suite in A-Dur
Alexandre Tharaud (Klavier) 2001
Harmonia mundi
Da spielt ein Spezialist, er spielt alles mit Punktierung, obwohl da nur Noten ohne Punkte stehen… Dieses Präludium ist eigentlich eine ausgeschriebene Improvisation, das ist Unterhaltungsmusik auf höchstem Niveau, wie Johann Strauss. Aber hier ist alles zu ernst gespielt, es müsste viel lockerer sein. Jetzt kommt die Wiederholung, und die bringt nichts Neues. Diese Musik lebt von kleinen Verzierungen und Varianten, er macht stur weiter mit den Punktierungen. Er hat gelesen oder gelernt, dass man das so macht, und zieht es durch. Das Äußerliche stimmt, aber das ist nur der erste Schritt. Der zweite Schritt fehlt. Rameaus Musik darf nicht kompliziert und ernst klingen, das ist keine Musik, die sich bei häufigem Hören entfalten muss wie der späte Beethoven. Sie muss unmittelbar wirken, sie muss gefallen, wie ein Schmuckstück dem Auge schmeichelt. Und das tut sie hier einfach nicht.
Schumann: Kreisleriana
Vladimir Horowitz (Klavier) 1985
Great Pianists
Philips
(sofort) Oh, du meine Güte. Was ist das? Nein, bitte nicht, das ist entsetzlich! Machen Sie es aus. Das hat weder mit Schumann noch mit E.T.A. Hoffmann irgendetwas zu tun. Was ich höre, ist eine Czerny-Etüde. Äußerst bewegt, schreibt Schumann, und selbst wenn er das nicht geschrieben hätte, spürt man doch, diese Musik lebt von der Leidenschaft. Vom ersten Ton an muss ein Sturm durchs Zimmer fegen. Aber bei dieser Musik hier kann man friedlich zu Abend essen. Das ist gegen Schumann. Schumann ist das Opfer jener Bürgerlichkeit geworden, gegen die er so sehr gekämpft hat. Man sitzt gemütlich vor dem Kamin und hört die Dichterliebe oder die Träumerei. Das ist genau, was Schumann nicht wollte. Diese Musik muss stören, der Kapellmeister Kreisler hat ja auch nicht in den gesellschaftlichen Rahmen gepasst. Das ist Horowitz? Aber nicht die späte Aufnahme aus St. Petersburg. Da hatte er keinen guten Tag, das ist uninspiriert. Die Kreisleriana hat er häufiger als jedes andere Schumann-Werk aufgenommen, und doch war ihm diese Seite Schumanns wohl fremd. Ich bin durch Horowitz’ Aufnahme zur Humoreske gekommen, wollte die mit 16 unbedingt spielen. Und die Dichterliebe mit Fischer-Dieskau ist auch sehr gut.
Schubert: Klaviersonate Nr. 15 C-Dur D 840
Mitsuko Uchida (Klavier) 1996
Philips
Das ist ein herrliches Werk. Aber ich kenne keine einzige Aufnahme dieser unvollendeten Sonate. Sehr schön, sehr fein. Mit sehr großem Verstand und Gefühl und vielen Farben, bei solchen ganz schlichten Stücken kann man das gut beurteilen. Sehr schön, wirklich! Ohne Selbstüberhöhung, aber mit großer Substanz und Individualität. Das ist Uchida? Ach. Das hat Qualitäten, die Männer nie erreichen können. Diese Ausgeglichenheit haben wir Männer von Natur aus nicht, oder wir müssen sehr darum kämpfen, und selbst dann wird es fast künstlich. Das heißt nicht, dass Schubert ein Komponist nur für Pianistinnen sei. Aber wenn ein Mann spielt, hat es andere Qualitäten.
Mozart: Klavierkonzert Nr. 22 Es-Dur KV 482
Alfred Brendel (Klavier)
Scottish Chamber Orchestra
Charles Mackerras (Leitung) 2000
Philips
Das ist fast mein Lieblingskonzert von Mozart. Das ist ein europäisches Orchester. Ein englisches? Sehr fein. (Klavier setzt ein) Nicht sehr gut. Diese Verzierung steht nur wegen der Dissonanz da, und er hier macht sie vorher, das ruiniert den ganzen Sinn. Es ist irgendwie hübsch gespielt – und doch gefühllos. Schöne Oberfläche, nichts dahinter. Diese Musik ist transparent, durchsichtig und fein, aber da sind genauso viele Gefühle drin wie in der Kreisleriana. Jetzt nimmt er einfach ein langsameres Tempo, das ist keine Lösung. Der Puls muss schon stimmen. Der enorme Erfindungsreichtum Mozarts muss deutlich werden… Das hier könnte vom Klang her auch ein Tschaikowsky sein. Und die Pausen sprechen nicht, die sind tot. Nein, das ist Käse. Das Orchester dagegen klingt sehr fein, das gefällt mir. Vielleicht finde ich auch nur keinen Zugang zu dieser Interpretation. Das ist Brendel? Wirklich? Brendel spielt hervorragend Haydn, davon bin ich wirklich hypnotisiert, und vieles von Beethoven ist wunderbar. Aber seinen Mozart und seinen Schubert finde ich lauwarm, nichtssagend. Ich hatte zwei Stunden bei Brendel, einmal mit Schubert, das andere Mal mit Brahms. Man überlebt das, das ist eine Vergewaltigung. Das habe ich von allen Studenten gehört. Er ist ein großartiger Musiker, ein tolles musikalisches Gehirn, und zugleich ist er wie ein Beamter, der kontrolliert, ob alles stimmt, ob der Stempel auch auf der richtigen Stelle sitzt.