Was hat man sich unter dem Netzwerk Junge Ohren vorzustellen?
Alexander von Nell: Der Verein ist ein Zusammenschluss von Menschen und Institutionen im deutschsprachigen Raum, die das Musikleben mit innovativen Konzepten und Formaten bereichern und in ihrer Arbeit Berührungspunkte zur Gesellschaft suchen. Wir möchten klassische Musik und Oper auch jenseits des Rituals etablieren, das wir seit über zweihundert Jahren kennen. Dem Verein gehören sowohl Privatpersonen als auch Institutionen an – von der Elbphilharmonie über mittelgroße Orchester und Theater bis hin zu kleinen Kammermusikfestivals auf dem Lande.
Zum weiteren Verständnis dieses Vereins und seines Namens: Wie hat sich das Netzwerk Junge Ohren in den letzten Jahren entwickelt?
Katharina von Radowitz: Gegründet wurde das Netzwerk Junge Ohren vor fünfzehn Jahren aus der Wahrnehmung heraus, dass klassische Musik nicht mehr ohne Weiteres ihr Publikum findet. Studien aus dieser Zeit belegen, dass sich das Konzertpublikum nicht mehr aus den eigenen Reihen erneuern wird. Die Gesellschaft befindet sich in einem fundamentalen Wandel, sie verändert sich in ihrer Zusammensetzung, den Zugängen zur Bildung, aber auch den Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Hier muss sich auch der klassische Musikbetrieb neu positionieren. Deshalb haben sich Verbände aus den Bereichen Orchester, Jugendorchester, Musikindustrie und musikalischer Bildung zusammengeschlossen und das NJO gegründet. Ziel war es, das Konzertpublikum von morgen zu entwickeln und dazu musikalische Angebote für Kinder und Jugendliche zu fördern, indem man gelungene Beispiele sichtbar macht und die Protagonisten in den Austausch bringt – mit Blick auf den gesamten deutschsprachigen Raum.
Dieser Ansatz wurde im Laufe der Jahre vor allem durch den Austausch mit der lebendigen und kreativen Szene der Musikvermittlung weiterentwickelt. Neben dem Fokus auf Kinder und Jugendliche rückten auch die Eltern und Großeltern in den Blick – die Arbeit richtete sich auf verschiedene Generationen, und immer stärker wurden Themen wie Diversität, Inklusion und sozialräumliche Orientierung einbezogen. Die Frage ist: Mache ich Musik für oder mit Menschen? Partizipative Projekte tragen dem Rechnung, indem sie Mitgestaltung ermöglichen. Das alles heißt nicht, dass das klassische Konzert, wie es viele kennen und schätzen, abgeschafft werden soll. Aber das NJO setzt sich dafür ein, das Angebot zu erweitern und neue Zugänge und Formen der Teilhabe zu ermöglichen.
Nicht die klassische Musik selbst ist also die Ursache dafür, dass ein eher kleiner gesellschaftlicher Teil daran aktiv teilhat, sondern die Darreichungsform?
von Radowitz: Es gibt eine gewisse Hermetik des Klassikbetriebs. Das bürgerliche Konzertleben ist mit all seinen Ritualen perfekt auf eine Zielgruppe zugeschnitten, und das funktioniert auch. Es ist eingespielt und vermittelt Sicherheit für beide Seiten. Andererseits ist diese auch fragil. Das merkt man, wenn eine Schulklasse im Konzert auftaucht, die mit den Codes nicht so vertraut ist. Es ist plötzlich mehr Farbe im Saal und man nimmt ein anderes Grundrauschen wahr. Teile des Publikums und auch die Künstlerinnen und Künstler fühlen sich dadurch mitunter gestört. Wer hat nun das „Hausrecht“? Wie kann es gelingen, neue Impulse zu setzen, neues Interesse zu erzeugen, dabei aber alle mitzunehmen? Dass etwas in Bewegung kommen muss, hat gerade auch die Zeit nach dem Lockdown gezeigt.
Wer sind die Teilnehmenden des Netzwerk Junge Ohren und die Kooperationspartner?
von Radowitz: Acht Verbände fungieren als Stakeholder des Vereins: der Bundesverband Musikindustrie, der Deutsche Bühnenverein, Jeunesses Musicales Deutschland, der Schweizerische Musikerverband, die Stiftung Zuhören, der Verband deutscher Musikschulen, unisono (vorher Deutsche Orchestervereinigung, d. Red.) und Younion. Sie unterstützen uns insbesondere ideell. Diejenigen, die ganz praxisnah an Austausch und Vernetzung interessiert sind, schließen sich als Teilnehmende dem NJO an. Ein bisschen kann man sich das wie eine Mitgliedschaft bei Greenpeace vorstellen. Man zahlt einen jährlichen Beitrag und ist dann einerseits in einen bestimmten Kosmos eingebunden. Je nachdem, welche Ressourcen und Motivation man hat, kann man sich mehr oder weniger in die Netzwerkarbeit einbringen, man wird aber in jedem Fall sichtbar, zum Beispiel auf unserer Webseite oder mit Hinweisen im Newsletter. Nicht zuletzt unterstützt man mit seiner Teilnahme aber grundsätzlich unsere Arbeit für das Thema Musikvermittlung und zeigt Haltung. Wir haben im Moment etwa 270 Teilnehmende. Sie alle bekennen sich zu der Idee, das Musikleben am Puls der Gesellschaft auszurichten und zu entwickeln.
von Nell: Dabei ist die Zusammensetzung der Teilnehmenden im stetigen Wandel, denn der große Vorteil der Netzwerkstruktur ist, dass wir nie „fertig“ sind. Wir sind offen für Impulse und Partner aus der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft oder aus anderen Kultursparten. So bleiben wir lebendig und machen keine klassische Verbandsarbeit als Interessensvertretung für einen eingeschworenen Kreis.
Wer profitiert vom NJO?
von Nell: Das klassische Musikleben als solches. Die Notwendigkeit einer Öffnung des Betriebes drängt sich nach der Pandemie noch stärker auf. Neues Publikum zu generieren, Altbekanntes zu hinterfragen und Strukturen aufzubrechen ist noch wichtiger geworden.
von Radowitz: Die Teilnehmenden profitieren von der größeren Sichtbarkeit und vom Austausch. Das NJO koordiniert acht regionale Arbeitskreise im deutschsprachigen Raum, die sich zweimal im Jahr treffen. Insgesamt erreichen wir über unsere Einladungen bis zu 1000 Interessierte. Hier findet ein Wissenstransfer statt und eine Schärfung des Profils in einem immer noch jungen Arbeitsfeld. Meistens ist die Position der Musikvermittlung in einer Institution diejenige, die am dichtesten am Publikum – oder am „Noch-nicht-Publikum“ – dran ist. Die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Strömungen ist hier sehr groß und kann im Netzwerk geteilt werden.
von Nell: Dazu gibt es begrüßenswerte Tendenzen in der gesamten Klassikszene. Zum Beispiel bekleiden immer mehr Menschen mit ausgewiesener Vermittlungskompetenz in Führungsrollen, etwa die künftigen Intendantinnen des Staatstheaters Wiesbaden oder die Opernintendantin in Essen.
Was sind Ihre Visionen für das NJO?
von Radowitz: Wir verfolgen Entwicklungen, begleiten sie und schaffen Räume dafür, neue Impulse aufzugreifen und die Praxis zu beleben. Die nächsten fünfzehn Jahre des NJO werden aber nicht mehr allein vom klassischen Feld der Musikvermittlung geprägt sein. Dass dieser Bereich sehr wichtig ist, sollte schon heute in die DNA jeder Musikeinrichtung eingeschrieben sein. Wir verstehen uns als kreativen Think Tank, der den Schritt aus der Kulturblase wagt und die Musik mit gesellschaftlichen Herausforderungen verbindet.
von Nell: Dabei ist Gesellschaft aber kein statisches Konstrukt. Das heißt, eine Instanz wie unsere, die sich selbst und ihr Umfeld immer aufs Neue befragt, wird immer wichtig bleiben.
Welche Themen aus dem NJO werden unsere Leserschaft bereichern?
von Radowitz: Wir richten den Scheinwerfer auf die Veranstaltungen und Menschen, die das Publikum auf besondere Art und Weise zum Musikhören einladen. Wir geben diese Einladung an das Publikum weiter, Feedback zu geben und das Konzertleben mitzugestalten.