Er ist einer der vielversprechendsten unter den jungen Dirigenten-Shooting-Stars. Mit 24 Jahren gewann Krzysztof Urbański, Jahrgang 1982, den Dirigentenwettbewerb beim Prager Frühling. Seitdem ist sein Konzertkalender gut gefüllt, vor allem beim NDR Sinfonieorchester ist er immer wieder zu Gast. Seit 2010 ist er Chefdirigent des Trondheim Symfoniorkesters, seit 2011 auch er Indianapolis Symphony. Beim Interview im Dirigentenzimmer des Hessischen Rundfunks in Frankfurt/Main erweist sich der Pole als munterer, engagierter Gesprächspartner.
concerti: Herr Urbański, wie sind Sie zum Dirigieren gekommen?
Krzystof Urbánski: Das war ein Unfall. In meiner Familie gab es niemanden, der ein Instrument spielte. Erst als ich zwölf war, nahm mich ein Freund mit zur Musikschule. Ich wollte Gitarre lernen – meine Familie sagte: Dann kannst du auf unseren Familienfeiern spielen. Aber die Gitarrenklasse war voll, und so bin ich zum Horn gekommen und habe mich schnell ins Instrument verliebt. Aber eigentlich wollte ich Komponist werden. Mit 15 habe ich ein Stück für Orchester geschrieben und in meiner Heimatstadt Pabianice in Zentralpolen ein Konzert organisiert, um es aufzuführen. Ich habe Schüler der Musikschule gebeten zu spielen, und die sagten: Aber du musst dirigieren. So habe ich mir chinesische Stäbchen genommen und geübt. Nach dem Konzert wusste ich, dass ich zum Komponieren kein Talent hatte. Aber das Dirigieren hat Spaß gemacht. Auch den Musikern, und von da an haben wir zweimal pro Jahr Konzerte gegeben. Mit 18 habe ich dann angefangen zu studieren: Horn an der Rubinstein-Akademie in Lódz und Dirigieren in Warschau. Und irgendwann musste ich mich entscheiden. Horn ist schön, aber ein ganzes Orchester ist schöner.
concerti: Mit welcher Musik sind Sie denn aufgewachsen?
Urbánski: Mit Popmusik. Meine erste Lieblingsband waren New Kids on the Block, später war Michael Jackson mein Held. Als ich die Klassik entdeckt hatte, habe ich Popmusik völlig abgelehnt und nur noch Klassik gehört, vor allem Sinfonik. Erst nach Michael Jacksons Tod habe ich seine Musik wiederentdeckt und gemerkt: Das ist wirklich gute Musik!
concerti: Kann man Dirigieren lernen?
Urbánski: Das Problem ist, es ist so komplex. In der Verantwortung des Dirigenten liegt es, eine schlüssige Interpretation zu entwickeln. Aber die hat man erstmal nur im Kopf. Man muss andere dazu bringen, ein Stück so zu spielen, wie man es sich wünscht. Und bei jedem Orchester muss man einen anderen Weg finden. Dazu muss man den richtigen Instinkt haben, denke ich, sonst geht es nicht. Ich bin zur Zeit jede zweite Woche bei einem neuen Orchester, und ich habe ja noch so wenig Erfahrung. Das ist spannend. Manchmal ist es schwierig, herauszufinden, warum es nicht so klingt, wie man es sich wünscht. Das ist wie die Arbeit eines Arztes. Man muss gute Ohren haben und eine schnelle Diagnose stellen.
concerti: Geht es da nur um technische Aspekte? Oder entwickeln Sie auch Bilder, um die Musiker zu inspirieren?
Urbánski: Absolut nicht. Wenn ich den Musikern sagen würde, jetzt beginnt die Morgendämmerung und hier steigt der Nebel aus den Wiesen, da käme ich mir albern vor. Ich sage: Mehr secco, hier mehr forte, dort etwas mehr Druck auf den Bogen. Ich benutze musikalische und technische Termini – dann funktioniert es. Das wichtigste am Dirigieren ist das Zuhören. Und das ist nicht so einfach, weil man auf so viele Dinge achten muss.
concerti: Sie haben eine genaue Vorstellung, wie es klingen soll?
Urbánski: Als ich begonnen habe, Profiorchester zu dirigieren – nach dem Gewinn des Prager Wettbewerbs 2007 –, hatte ich ganz genaue Vorstellungen. Alles musste so sein, wie ich es wollte, sonst habe ich abgebrochen. Ich bin nicht gut in Kompromissen. Und dann kam es vor, dass das Orchester so gespielt hat, wie ich es wollte – aber es war nicht mehr so schön. Und seitdem überlege ich zehn, fünfzehn Mal, ehe ich etwas ändere, ob es dadurch wirklich besser wird. Wenn ich der Oboist wäre, würde ich das Solo auf diese Weise phrasieren. Aber für den Oboisten funktioniert es vielleicht auf eine andere Weise besser. Ich ändere nur noch, wenn etwas unlogisch ist für meine Struktur, wenn zum Beispiel das Oboen-Solo nicht zum Geigen-Solo zuvor passt. Und ich beginne immer mit einem Durchgang, in dem ich nur zuhöre, was das Orchester anbietet. Natürlich muss man an technischen Dingen arbeiten, Tonlängen, Intonation usw. Aber wenn es ums Phrasieren geht, kann man als Dirigent viel kaputtmachen.
concerti: Ist es manchmal schwierig, sich als junger Dirigent gegen ein erfahrenes Orchester durchzusetzen?
Urbánski: Na klar. Manch ein Stück haben sie hundert Mal gespielt, und ich mache es zum ersten Mal. Aber wenn ich dirigiere, soll es so sein, wie ich es haben will. Der Dirigent ist verantwortlich für Tempo, Phrasierung, Balance, die Musiker für den Klang. Die Verantwortung ist geteilt. Ich habe gemerkt, dass ich einen anderen Ansatz habe als viele Dirigenten – ich habe großen Respekt vor guten Komponisten und folge den Angaben in der Partitur sehr genau. Ehe ich etwas ändere, muss ich ganz sicher sein, dass es sonst nicht funktioniert – das gibt es auch. Aber von Traditionen, die sich über die Jahrzehnte gebildet haben, halte ich nichts. Nehmen Sie Dvořáks Neunte. (Er setzt sich ans Klavier) Dies ist das erste Thema. Und dies das zweite. (spielt es relativ schnell) So stimmt der Bezug. Aber alle machen es so. (spielt es viel langsamer) Die Temporelation muss stimmen. Ich bin sicher, dass ich Recht habe. Aber können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist, ein Orchester davon zu überzeugen? Oder das Flötensolo. Das ist doch verkehrt, wie es alle machen. So hat Dvořák das nicht geschrieben! Schlimm ist es, wenn die Musiker nicht zum Dirigenten gucken, wenn der Flötist nicht guckt und immer langsamer wird. Mir hat mal ein Flötist gesagt: Ich kann das so nicht. Und ich sagte ihm: Spielen Sie es semplice (schlicht), einfach nur semplice – das ist mein Lieblingswort. Für die Architektur, die Struktur, die Dramaturgie, die Narration ist die einfachste Lösung oft die beste. Morgen mache ich Dvořák 5 hier, da bin ich nicht viel mehr als ein Metronom. (lacht)
concerti: Spüren Sie, dass Sie auf dem Prüfstand stehen?
Urbánski: Oh ja, die Musiker lassen es dich merken, ob sie dich mögen oder nicht. Mein Problem ist, ich bin nicht flexibel. Das kann auch ein Problem sein in der Zusammenarbeit mit Solisten. Aber ich versuche zu lernen. Vermutlich ist es schwierig, mit mir zu arbeiten. Warum arbeitet er so sehr an Details, das merkt doch keiner, denken sich die Musiker. Aber für mich ist es wichtig.
concerti: Sie haben eine ideale Interpretation, die Sie in den Proben erarbeiten und im Konzert abrufen?
Urbánski: Ich hasse das Gerede von Intuition, ich fange nicht im Konzert an, verrückte Dinge zu tun. Ich habe eine Vision, die ich in den Proben vorbereite und im Konzert abrufe. Mich haben Musiker schon gefragt, warum ich in den Proben so voller Energie bin und im Konzert so zurückgenommen. Aber da brauche ich das nicht mehr. Ich will keine Show machen. Die Leute sollen der Musik zuhören, nicht mir zuschauen. Natürlich werde ich mitgerissen, wenn das Orchester toll spielt. Aber mein Ideal wäre: Wenn wir fünf Konzerte hintereinander spielen, soll es exakt gleich klingen. Allerdings höre ich mir die Mitschnitte meiner Konzerte an und muss dann manchmal nachjustieren. Und noch etwas: Wenn ich Dvořák 9 erarbeitet habe, habe ich meine Interpretation für alle Ewigkeit. Doch wenn ich das Stück ein Jahr später wieder dirigieren muss, kommt mir alles falsch vor und ich fange völlig von vorn an. Das zweite Thema muss doch viel langsamer sein! (lacht) Das ist ein endloser Prozess. Selbst wenn ich jeden Tag zehn Stunden darüber nachdenken würde, würde ich an meinem Todestag sagen: Ich weiß nicht, wie man es „richtig“ spielt.
concerti: Ist das nicht frustrierend?
Urbánski: Natürlich. Man hat nie genug Zeit zum Nachdenken. Man muss irgendwann Entscheidungen fällen. Und man will so viele Werke lernen. Es wird leichter, je mehr man weiß und kennt – dann sieht man Bezüge und Zusammenhänge.
concerti: Haben Sie ein fotografisches Gedächtnis?
Urbánski: Ich sehe die Noten vor mir, wenn ich dirigiere. Ich erarbeite mir ein Stück, indem ich mich ans Klavier setze und das Stück durchspiele, jede einzelne Note, jede Stimme, da kann man Stunden mit einer Seite verbringen. Dann setze ich mich in meinen Sessel, setze mir Ohropax ein und höre das Stück im Kopf, probiere Dinge aus, als würde ich es auf einem Synthesizer spielen. So entwickle ich meine Interpretation. Die versuche ich dann mit dem Orchester zu wiederholen.
concerti: Da brauchen Sie die Noten nicht mehr?
Urbánski: Nein, ich habe alles im Kopf, auch die Taktzahlen. Nicht bei allen Stücken, aber bei den meisten – wenn ich genug Zeit hatte. Allerdings mögen es manche Solisten nicht, wenn der Dirigent keine Noten hat. Und meine Aufgabe ist es ja, dass sie sich wohlfühlen. Und manchmal machen sie verrückte Dinge, wenn sie aufgeregt sind, da muss man sie dann irgendwo wieder einfangen. (lacht) Aber ohne Noten ist es so viel einfacher. Man kann die Augen schließen und sich ganz aufs Hören konzentrieren und muss nicht dauernd umblättern.
concerti: Was macht am meisten Spaß?
Urbánski: Wenn man das Gefühl hat, es funktioniert. Egal ob in der Probe oder im Konzert. Erst spielen die Musiker, wie sie es gewohnt sind. Aber wenn sie dann so spielen, wie du es dir vorgestellt hast, und es funktioniert – das ist wunderbar. Wenn man es endlich so hört, wie man es immer hören wollte, und merkt, dass es richtig ist, das ist ein magischer Moment. Manchmal möchte ich lieber im Publikum sitzen und zuhören. Das mache ich ab und zu in der Probe. Es gibt Stücke, da gibt man den Einsatz, und dann braucht das Orchester den Dirigenten nicht mehr. Ich gehe in den Saal und höre zu, da ist die Balance besser, als wenn man auf dem Podium steht. Das ist wunderbar.
concerti: Sie dirigieren viel polnische Musik. Wird das von Ihnen erwartet oder ist das Ihre Wahl?
Urbánski: Es gibt so tolle Stücke, die kaum einer kennt. Orawa von Wojciech Kilar spiele ich oft – das ist doch großartig, ebenso Krzesany. Auch Lutoslawski, Penderecki, Górecki, Szymanowski – das muss ich einfach machen.