Das Stück ist wirklich eine Grenzerfahrung – sowohl beim Interpretieren als auch beim Zuhören. Oft kommen Leute nach einem Konzert auf die Bühne und wollen die Noten sehen, weil sie sich gar nicht vorstellen können, dass diese Musik irgendwie aufgeschrieben ist. Luciano Berio hat das Werk 1966 während seiner Zeit in Amerika für Frans Brüggen komponiert, und ich glaube, Berio wollte ihn damit ein bisschen in den Wahnsinn treiben. Mir selbst ist das Stück zum ersten Mal während meines Studiums begegnet. Bei meinen ersten Performances war ich immer unglaublich konzentriert, um wirklich alles genau umzusetzen, was da in den Noten steht. Heute kann ich mir selbst mehr zuhören, viel mehr davon wahrnehmen und diese gewisse Unschärfe, die das Werk ausmacht, genießen. Es ist aber immer auch sehr von der Tagesform abhängig, weil man wahnsinnig viel Power und Körperspannung braucht.
Jetzt beißen sich meine eigenen Studierenden die Zähne daran aus. „Gesti“ ist ein Stück, an dem man wächst und aus dem man sehr viel für sich mitnimmt. Man muss sich beim Spielen intensiv mit sich selbst und mit dem Instrument auseinandersetzen. Es ist die Herausforderung, in jeder Hinsicht in die absoluten Extreme zu gehen, und man muss eine Unabhängigkeit im Kontrapunkt von Fingern, Atem und Stimme erreichen, was man als Melodieinstrumentenspielerin sonst kaum erlebt, vor allem nicht in der Alten Musik – dort feilt man an anderen Parametern. Aber genau dieses Erleben macht das Werk für mich so faszinierend.