Auf einer einsamen Insel würde ich dieses Agnus Dei aus der Missa Ave Maris Stella täglich singen, denn damit gelingt es mir, die ständigen Ohrwürmer, die ich als Dirigent habe, loszuwerden. Auch wenn ich abends zur Ruhe kommen will oder nicht einschlafen kann, singe ich es innerlich; und sobald ich seine magische Schlusssequenz erreicht habe, bin ich tiefenentspannt. Es ist zauberhaft, welch ein Kunstwerk Victoria ausgehend von einer simplen gregorianischen Melodie geschaffen hat, mit einer Topografie, die einem Schubert– oder Mahler-Lied in nichts nachsteht. Wir sollten nicht vergessen: Ohne diese Polyfonie der Renaissance gäbe es keinen Bach, Mozart oder Strawinsky.
Victorias Musik spricht einen mit ihrer Schlichtheit direkt in der Seele an. Für Chöre ist sie anfangs enorm heikel, denn in der Partitur gibt es keinerlei Ausdruckszeichen. Singen ist Liebe, das muss man nicht nur verstehen, sondern auch spüren.Ich kenne das Agnus Dei seit meinem ersten Jahr als Chorknabe an der Westminster Cathedral. Während meiner Probezeit hat der Chor das Stück auf CD aufgenommen und dafür sogar einen Gramophone Award gewonnen. Wir hatten das Glück, täglich solch zauberhafte lateinische Messen aus der spanischen und italienischen Renaissance zu singen, die hatte man in den achtziger Jahren wieder entdeckt.Dieses Stück ist vierhundert Jahre alt und berührt mich jedes Mal aufs Neue, ja mehr als das, es bringt mich immer zum Lächeln!