Seit 1994 küren Deutschlands führende Opernkritiker für die Zeitschrift Opernwelt eine „Sängerin des Jahres“. Erst eine trug den Titel zweimal: Marlis Petersen. Seit über zehn Jahren gastiert die Sopranistin an den großen Häusern der Welt, im Februar wirkt sie im Radialsystem V in einer szenischen Aufführung von Brahms‘ Requiem mit. Marlis Petersen nennt sich selbst das wandelnde Nord-Süd-Gefälle: Ihre Eltern stammen aus Hamburg, sie ist Schwäbin. Doch Ihr Zuhause liegt inzwischen noch weiter südlich.
Frau Petersen, wie sind Sie nur darauf gekommen, nach Athen zu ziehen?
Es war eine Entscheidung der Sonne entgegen. Und da ich eine lange Beziehung zu Griechenland habe, war das meine erste Wahl vor Italien, Spanien oder Frankreich. Die Entscheidung kam dann aber vor zwei Jahren ganz spontan. Ich war in Berlin und es war finsterster Januar. Dann flog ich nach Athen, da schien die Sonne bei 17 Grad, und da hat es klick gemacht. So bin ich mit Sack und Pack dorthin gezogen. Es ist keine Opernmetropole, aber Athen hat immerhin drei Opernhäuser. Wie Berlin.
Stimmt es, dass Sie durch den Kirchenchor zum Singen gekommen sind?
Die Kirchenmusik hat mich damals sehr berührt, und als mich der Chorleiter gefragt hat, ob ich in der Schubert-Messe ein Solo singen wollte, war ich höchst beglückt. Im Jahr danach habe ich das Solo der Jubelmesse von Weber mit all den Koloraturen wie aus dem Nichts heraus gemeistert. Da habe ich Feuer gefangen.
Das brennt anscheinend bis heute – Sie singen in dieser Saison viel geistliche Musik.
Ich mache eine Art Opern-Sabbatjahr. Ich wollte mich mal mehr dem Lied und dem Konzert widmen. Ich bin gespannt, wie das wird, weil die Bühnenbretter für mich schon essentiell sind.
Ist man im Konzert im Vergleich zur Oper und zum Lied nicht künstlerisch eingeengt?
In der Oper hat man ganz andere Bewegungsmöglichkeiten und ist in eine Geschichte eingebunden, was ich sehr liebe. Das Konzert hat andere Qualitäten, es kommt mehr aus der Stille heraus. Schön ist, dass man den Orchesterklang direkt hinter sich hat. Ich habe letztens eine Telemann-Kantate mit der Akademie für Alte Musik Berlin gemacht, da saßen 25 Musiker um mich herum und ich stand mittendrin – das war ein tolles Gefühl. Ein Liederabend ist wieder etwas anderes, das ist eine ganz andere Ebene des Singens mit vielen Zwischentönen – eine Oper im Innern.
Spielen Sie noch Klavier? Sie haben ja mal als Keyboarderin in einer Popband gespielt.
Das stimmt, ich war Sängerin und Keyboarderin in einer Coverband, so habe ich mein Studium finanziert. Ich habe ja Schulmusik mit Hauptfach Klavier studiert, aber danach sofort aufgehört. Heute spiele ich nur noch Klavier, wenn ich ein Stück oder eine Partie lerne, das mache ich mit der Partitur oder dem Klavierauszug, bis dann ein Coach übernimmt und ich auswendig singe. Aber ich spüre, es wird eine Zeit kommen, wo ich auch wieder richtig Klavier spielen werde.
Konnten Sie sich wirklich vorstellen, Lehrerin zu werden?
Überhaupt nicht. Meinen Eltern war nicht so ganz wohl mit der unsicheren Musikschiene. Und da habe ich gesagt: Machen wir einen Kompromiss, ich studiere Musik auf Lehramt, fürs Gymnasium, mit einem zweiten Fach – was ich nie gemacht habe. Ich habe schnell gemerkt, dass das nichts gewesen wäre.
Musikerin war in der Familie nicht vorgesehen?
Gar nicht. Mein Vater hatte eine schöne Stimme und hat auf der Gitarre geklampft. Aber meine Eltern haben eher Volksmusik gehört. Meine erste Kassette habe ich bekommen, als ich 14 war: Abba – das war ein Kampf. Popmusik war verpönt. Meine Mutter hatte einige klassische Platten. Ich erinnere mich, dass ich mal Dvorˇák aufgelegt habe – und dabei bin ich glatt eingeschlafen. Ich habe den Zugang sehr spät bekommen, was im Studium nicht einfach war. Welche Epoche, welcher Komponist – davon hatte ich keine Ahnung.
Wie hat sich denn Ihre Leidenschaft für die Neue Musik entwickelt?
Ich hatte Dirigierprofessoren und später auch einen GMD, die viel Modernes aufgeführt haben, und so habe ich schon während des Studiums und im ersten Engagement in Nürnberg ganz viel Neue Musik gesungen, das hat mich gleich in die Schuhe gebracht. Neue Musik kann faszinierend sein. Reimann zu lernen zum Beispiel war der Einstieg in einen eigenen Kosmos.
Wie ist es dazu gekommen, dass Aribert Reimann die Medea für Ihre Stimme geschrieben hat?
Er hatte mich mehrfach gehört und meine Stimme im Ohr. Und als er dann das Angebot von Ioan Holender bekam, die Medea für die Wiener Staatsoper zu schreiben, hat er mich gleich dafür vorgeschlagen.
Wie merkt man sich solch eine Partie?
Ich habe in meinem Leben nie etwas Schwereres gelernt. Wenn man das einmal draufhat, ist es machbar. Aber der Weg dahin ist unfassbar aufwändig. Es war einen Monat lang erst mal nur Mathematik. Es gibt viele Taktwechsel, innerhalb eines Taktes viele Quintolen und Sextolen und Triolen, mit Pausen und überbunden aus dem Takt vorher usw. Das habe ich zunächst mal mathematisch auseinandernehmen müssen, um es dann musikalisch wieder zusammenzufügen. Das Auswendiglernen kommt sehr spät. Man hat manchmal Assoziationen harmonischer Art, man ist zum Beispiel kurz in a-Moll, und dann kommt ein Tritonus mit einem Schwung nach oben. So merkt man sich das. Und dann sackt es langsam ins System.
Fast alle Musiker spielen zeitgenössische Musik aus den Noten – Sie als Opernsängerin können das nicht.
Gemein, gell? Das Verrückteste, was ich je gemacht habe, war Neither von Feldman – auswendig. Ich war damals im Ensemble in Nürnberg, da hat mich mein GMD zwei Monate aus dem Repertoire genommen, und ich habe nur Feldman gelernt.
Wird es einfacher, je mehr man sich mit Neuer Musik beschäftigt?
Es wird einfacher. Aber es wird auch schwieriger, wieder zurückzukommen. Nach einem Reimann brauche ich schon ein paar Wochen, bis die Stimme wieder dieses Filigrane für Mozart bekommt. Man muss sehr aufpassen, man kann sich an Neuer Musik auch kaputt singen.
Wo liegt die Gefahr?
Die größte Gefahr ist, dass man zu sehr schreit und die Stimme in die Extreme zwingt. Bei tonalen Komponisten sind alle Noten eingebunden in eine Linie, in Neuer Musik muss man viel springen und kann sich nie ausruhen auf einer Harmonie. Das erfordert viel schnellere Reaktionen, da gehen viele Feinheiten verloren, man verliert manchmal den Zugang zur Intonation. Und bei Mozart z.B. hört man sofort, wenn etwas nicht wirklich stimmt. Mozart holt einen zurück zum Kern des Gesangs.
Sie haben gerade als Traviata debütiert, da wissen Sie: Wenn Sie die gut machen, werden Sie überall eingeladen. Ob eine neue Oper überhaupt noch ein zweites Mal aufgeführt wird, ist ungewiss. Hat sich der Aufwand für Ihre drei großen Uraufführungen gelohnt?
Er hat sich gelohnt. Henze, Reimann und auch Trojahn sind ja schon Klassiker. Man muss der Typ dazu sein, dass man die Herausforderung liebt und sich die Zeit dazu nehmen möchte. Es kommt auch schon eine neue. Christian Jost schreibt eine Armida für Zürich. Die kommt 2015 – verrückt, nicht? Diese langen Vorläufe machen mir schon manchmal Angst. Vor allem in Phasen, in denen man nicht weiß, wo geht es hin mit der Stimme. Man sagt eine Partie zu und weiß nicht: Geht das dann überhaupt noch, will ich das dann noch?
Versuchen Sie Ihre Stimme zu lenken?
Ich lasse sie sich entwickeln. Ich war nie ganz so treu, ich hätte die ersten Jahre immer nur Olympia, Königin der Nacht und Blondchen singen können, dann wäre meine Stimme sicherlich vertikaler und schlanker geblieben. Aber ich wollte andere Figuren singen und spielen, und so kam die Lulu sehr früh in mein Gesichtsfeld – mit mehr Weite, mehr Lyrik und mehr Trauer, und dadurch hat mein Stimmumfang an extremer Höhe verloren. Da war halt die Königin irgendwann vorbei und dann die Zerbinetta. Jetzt ist die Stimme breiter und wärmer.
Woran merken Sie, dass es für eine Partie noch zu früh ist?
Wenn man wach ist und sich gut kennt, spürt man das. Die Salome ist eine Figur, die mich wahnsinnig interessiert, aber wenn ich sie jetzt singen würde, würde mir das nicht gut tun, dann wäre ich übermorgen weg vom Fenster.
Und wenn Ihre Stimme in acht oder zehn Jahren für die Salome immer noch nicht reif ist?
Dann kann ich damit leben. Ich wollte gern mal die Lucia machen, aber ich glaube, das ist vorbei. Auch die Gilda ist irgendwie an mir vorbei gegangen. Aber das sind keine Partien, denen ich wirklich hinterhertrauere. Lulu ist meine Traumpartie – ich mache jetzt ein paar Jahre Pause, dann kommen nochmal zwei Neuinszenierungen in München und an der Met. Und dann ist Schluss. Da geht’s in Richtung 50, dann hatte ich zehn Produktionen, und dann ist es vielleicht auch gut.
Wie kommt es, dass sich Sängerinnen und Sänger immer wieder ihre Stimme zerstören?
Sie machen zu viel. Der Betrieb ist die Hölle, das glauben Sie gar nicht. Das ist der Wahnsinn. Wenn ich vier neue Produktionen im Jahr mache – eine zeitgenössische, eine Mozart-Partie, eine Verdi-Partie und noch eine –, dann bin ich wegen der Proben jeweils zehn bis zwölf Wochen am Stück weg, dazu die Vorstellungen, da ist das Jahr rum. Es gibt aber auch Sänger, die machen ohne Pause sieben Vorstellungen hier, drei da, fünf dort, in ganz verschiedenen Stücken, die reisen nur durch die Gegend, wohnen nur in Hotelzimmern, kommen nie zur Ruhe – das schlaucht. Nein sagen zu lernen ist das Schwerste in diesem Beruf.
Wer erwartet denn, dass man immer ja sagt?
Das erwartet man von sich selbst! Es ist eine Mischung aus Ehrgeiz und dem Gefühl, es machen zu müssen, und der eigenen Lust daran. Wenn man sich drei Jahre lang eine Ruhephase freigehalten hat, und plötzlich kommt die Anfrage von der Met mit Luisi – da sagt man nicht ab. Ich bin inzwischen soweit, dass ich sage: Vier Wochen frei sind mir wichtiger. Das ist vielleicht schon Altersweisheit. (lacht)