Wie geht es Ihnen kurz vor dem Umzug von Düsseldorf nach Wien?
Martin Schläpfer: Es geht mir wesentlich besser als vor zwei oder drei Monaten, da war ich zunächst wie gelähmt. Das Dazwischen-Hocken zwischen zwei Orten, das hat mich belastet, und die Verantwortung für die Tänzer natürlich, auch die Angst um den Kulturbetrieb. Irgendwann konnte ich dann loslassen.
Der Abschied vom Ballett am Rhein ist Ihnen sicher schwergefallen, insbesondere da er durch den Corona-bedingten Stillstand ein ganz anderer wurde als ursprünglich geplant, oder?
Schläpfer: Das ist nicht einfach gewesen. Am meisten umgetrieben hat mich, dass jeder wie auf einer Insel für sich allein einen Weg durch das Leben gefunden hat. Obwohl wir in letzter Zeit wieder täglich drei Trainings live anbieten konnten, bröckelten die Beziehungen seltsam weg. Was uns gekittet hat, das Proben und die künstlerische Zusammenarbeit, ist halt abrupt abgebrochen.
Offiziell ist der 1. September 2020 Ihr erster Arbeitstag in Wien, aber Sie bereiten sich seit über zwei Jahren auf diesen Neuanfang vor …
Schläpfer: Genau, zweieinhalb Jahre Vorbereitungszeit. Das ist eine lange Zeit mit dieser Doppelbelastung, dem Doppelaspekt in meinem Leben. Geografisch war ich zwar noch zu mindestens achtzig Prozent in Düsseldorf und Duisburg anwesend. Ich bin kein Designierter, der schon herumschleicht, bevor seine Zeit gekommen ist. Aber dann kam Corona, mit fünf bis sechs Stunden Zoom-Konferenzen fast jeden Tag. Das fand ich manchmal wahnsinnig.
Statt einer Abschiedsgala gab es den Abschiedsfilm mit Ihnen, darin sprechen Sie von „heimeliger Nestatmosphäre“ – wurde es vielleicht auch zu gemütlich mit dem Ballett am Rhein?
Schläpfer: Mit Nestwärme meinte ich nur das alte Balletthaus, nein, bequem war’s nie hier. Aber die Frage ist durchaus berechtigt: Man kann auch unbewusst bequem werden, im Erfolg, das sind Dinge, die ganz fein und leise passieren. Und das will ich versuchen zu vermeiden. Ich muss jetzt einfach weiter, unabhängig ob besser oder schlechter.
Wien hat drei Mal bei Ihnen angefragt, bis Sie zugesagt haben, warum haben Sie gezögert?
Schläpfer: Ich hatte einen anderen Lebensentwurf: Ich wäre in die Natur gezogen, ins Tessin, und hätte zwei Monate unterrichtet und ein neues Stück pro Jahr gemacht. Und zusätzlich mehr frei gearbeitet.
Einige Mitarbeiter folgen Ihnen nach Wien. Wie schwierig war es, eine Auswahl zu treffen?
Schläpfer: Sehr schwierig. Ich nehme eine Dramaturgin mit, eine Ballettmeisterin und zwölf Tänzerinnen und Tänzer. Im Ballett am Rhein waren die Tänzer gewohnt, Solisten zu sein und ein fantastisches Repertoire zu haben, sich aber nicht in dieser hierarchischen Stufung zu bewegen. In Wien muss ein klassisches Repertoire bedient und eine Hierarchie im Ensemble berücksichtigt werden.
In Wien erwartet Sie ein 103-köpfiges Ensemble, wenn man beide Häuser – Staatsoper und Volksoper – zusammennimmt. Diese tradierte Hierarchie aus corps de ballet, Halbsolisten, Solisten und Ersten Solisten bleibt dort bestehen, auch wenn Sie bisher anders, demokratischer, gearbeitet haben. Wird sich folglich Ihre Herangehensweise und Ihr Choreografieren verändern?
Schläpfer: Das wird sich sicher ändern, und das ist natürlich auch eine Chance. Wien hat ohnehin einen anderen Company-Entwurf, im Guten wie im weniger Guten. Die Aufteilung auf zwei Häuser bedeutet zwei Intendanten und mitunter zwei ästhetische Ansprüche. Mein Vorgänger als Ballettdirektor, Manuel Legris, hat es eher getrennt belassen. Ich werde zum ersten Mal überhaupt für beide Ensembles ein Stück kreieren, also für alle 103 Mitglieder. Die 24 Tänzer der Volksoper stehen zusätzlich im Dienst von Musical, Operette und Oper. Aber wissen Sie, man kann Hierarchie horizontaler denken, wie man es in guten Betrieben macht. Natürlich kann ich einen Ersten Solisten nicht unbedingt in die Gruppe stecken. Aber es betrifft ja vor allem die klassischen bestehenden Handlungsballette. Ich hoffe, dass es durchlässiger wird und dass man das gar nicht planen muss, weil Künstlerinnen und Künstler auch im corps de ballet zu finden sind, denn das sind die späteren Solisten.
Könnte Ihre neue Position bewirken, dass Sie nach Ihrem „Schwanensee“ 2018 zukünftig mehr Handlungsballette kreieren?
Schläpfer: Das ist ein Gedanke und sicher auch ein Wunsch der Intendanten beider Häuser. Aber es kann zwei Jahre dauern. Man könnte auch einen Kompositionsauftrag vergeben und beispielsweise „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ machen. Es muss nicht unbedingt eine „Giselle“ sein. Ich habe die Wiener Philharmoniker und mache Mahlers vierte Sinfonie, weil die niemand schöner spielt. In Wien haben wir ja schon ein Repertoire mit tollen Handlungsballetten; Manuel Legris hat den Schwerpunkt auf so genannte Klassiker gelegt. Ich habe einen anderen Schwerpunkt, nehme die Klassiker auch mit, allerdings sehr ausgewählt, weil in gewissen Werken das Frauenbild grässlich ist: Ein Harem wie in „Le Corsaire“ geht für mich gar nicht mehr. Ich möchte mir selber treu bleiben, das ist das Wichtigste.
Sicher wird auch die neue Stadt Veränderungen initiieren …
Schläpfer: Wien mag ich sehr, es ist so jung geworden und kreativ und voller Widersprüche. Es gibt Orchester wie das „Klangforum“ und viele inspirierende Menschen und Künstler, darauf freue ich mich. Ich bin voller Demut und Verantwortungsbewusstsein für die Aufgabe. Aber Wien ist ein Ort, von dem man nie weiß: Nimmt es einen an oder spuckt es einen aus? Aber vielleicht ist es auch gerade das, was mich reizt. Ich kann nichts erzwingen, aber wenn ich das Ding gedreht kriege, damit es ein wichtiger Ort wird für Tanz, dann ist es eine grandiose Aufgabe.
Was genau meinen Sie damit: wenn ich das gedreht kriege?
Schläpfer: Es ist DAS Repertoire-Haus der Welt, die Philharmoniker und die Oper dominieren es. Ich stelle mir vor, dieses Staatsballett Wien ist wie eine Schraube: Wenn ich diese feste Schraube, die es bisher war, lockern kann und es mir gelingt, ein bisschen Luft zwischen die Etagen zu bekommen, dann ist das wichtig für unsere Kunst – und nicht für die Schläpfer-Karriere.
Ihre Sprache – und jetzt meine ich Ihre verbale Sprache – ist präzise, Ihre Worte sind sehr bewusst gewählt. Da gibt es große Unterschiede zur Kommunikation, wie sie typisch für Wien ist, sehen Sie das auch so?
Schläpfer: (lacht) Ja, das sehe ich auch so, ohne es werten zu wollen. Dort herrscht ein anderer Umgang mit Sprache und deren Bedeutung; auf jeden Fall braucht es Zeit, bis man das dekodieren kann.
Haben Sie Angst, dass es schief gehen könnte?
Schläpfer: Eigentlich nicht, weil Sprache wird getragen von Mimik, einem Ausdruck und Charisma, von Gestik. Es ist sicherlich so, dass man immer dranbleiben muss, bis etwas so ist, wie man sich eine Entscheidung wünscht.
Sie leiten auch die Ballettakademie, werden Sie dort unterrichten?
Schläpfer: Ja, auf jeden Fall, ohne das wäre ein Teil meiner Kraft als Direktor nicht da. Ich werde auch, sowohl in der Ballettakademie als auch beim Wiener Staatsballett, stellvertretende Direktoren etablieren, weil ich der Meinung bin, dass man solch große und komplexe Gebilde nicht alleine füllen kann. Mit einer solchen Position sind gesellschaftliche Anforderungen verbunden, und die sind in Wien wesentlich größer als in Düsseldorf. Ich habe es bisher immer geschafft, in den Medien öffentlich präsent zu sein, aber nicht präsent in der Stadt. Das wird sich in Wien ändern. Auf der anderen Seite möchte ich mich aber auch nicht verbiegen müssen, ich muss schon das vertreten, woran ich glaube, und auf Bestehendem aufbauen: auf diesem Düsseldorf, Mainz, Bern, das ist ja alles in mir. Der Fluss wird einen anderen Verlauf nehmen, wie in einem Delta, wo es auch nicht nur einen Arm gibt, sondern viele Arme desselben Flusses – so stelle ich mir das vor.