Startseite » Interviews » Blind gehört » „Ich bin ein großer Wagnerianer“

Blind gehört Matthias Hoffmann-Borggrefe

„Ich bin ein großer Wagnerianer“

Matthias Hoffmann-Borggrefe, Kantor an der Hamburger Hauptkirche St. Nikolai, hört und kommentiert CDs seiner Kollegen

vonArnt Cobbers,

Seit 2002 ist der Sauerländer Matthias Hoffmann-Borggrefe Kantor und Organist an der Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg. Zuvor war er in Düsseldorf tätig gewesen, wo er auch Kirchenmusik, Kapellmeister und Posaune studiert hat.

Bach: Missa A-Dur BWV 234

Cantus Cölln

Konrad Junghänel (Leitung) 2006

harmonia mundi

Das ist die A-Dur-Messe – ein tolles Stück. Mein Problem mit der historischen Aufnahmepraxis ist, dass ich eine Kantorei von 120 Leuten habe. Ich nutze natürlich die Erfahrung der historischen Aufführungspraxis, was Tempo, Phrasierung, Artikulation angeht. Ich bitte auch unser Orchester, die Camerata, manchmal, mit Rundbögen zu spielen – das klingt einfach anders. Aber ich mache Musik für unsere heutige Zeit, ich will keine Museumsmusik machen. Die Ohren der heutigen Zuhörer sind durch Wagner, Schostakowitsch usw. gegangen – das kann man nicht zurückdrehen. Wunderbar ist hier bei dieser Aufnahme, dass auch die Solisten entsprechend singen. Oft werden einfach Solisten aus dem Regal genommen, die gestern erst Rossini oder Wagner gesungen haben. Mich beschäftigt es schon, dass bei Bach und vor Bach alles solistisch besetzt war. Dass es den Chor, wie wir ihn heute kennen, gar nicht gab. Es gibt eine Eingabe an den Hamburger Rat von Thomas Selle aus den 1640er Jahren, in der er schreibt, er wolle die Musik in den Hauptkirchen auf einen besseren Stand bringen und brauche acht Sänger für den Chor – weil er doppelchörig singen wolle! Das ist belegt. Da war auch die Balance zwischen Orchester und Chor eine ganz andere als heute. Man sollte das im Hinterkopf haben, man muss den Chor anweisen, sehr schlank zu singen… Als Kantor muss man Bach lieben. Aber ich sage jetzt mal was ganz Ketzerisches: Der Größte für mich ist Mozart. Bach bewundere ich, dieser Kosmos, den er aufbaut, ist vollkommen. Und so etwas wie das Laudamus te, das hier jetzt kommt, überwältigt mich schon. Aber Mozart braucht drei Töne, um mich zu erschüttern. Nur war der leider katholisch… Mit einem Chor wie Cantus Cölln würde ich schon gerne mal zusammenarbeiten. Ich arbeite oft mit Chören zwischen 20 und 40 Sängern, das sind die semi-professionellen Leute aus der Kantorei, und mit denen kann man Literatur machen, die dem großen Chor nicht zugänglich ist, Musik vor Bach und des 20. Jahrhunderts vor allem. Aber: Die Arbeit mit einem Laienchor ist wunderbar, weil die Leute in der Lage sind, über sich hinauszuwachsen. Mit den Profis im Orchester – und das kann man auf den Profi-Chor übertragen – ist alles viel nüchterner, die kennen schon alles, haben schon alles erlebt. Es dauert viel länger, sie emotional zu packen. Ich habe ja auch Kapellmeister studiert und lange mit mir gerungen, ob ich ans Opernhaus oder in die Kirche gehen sollte. Aber dann habe ich einige Zeit in der Oper Krefeld-Mönchengladbach gearbeitet und gesehen, dass man ganz unten anfängt und von morgens bis abends geknechtet wird. Als Kirchenmusiker dagegen bist du der Chef. Und als dann in Düsseldorf die Stelle an der Matthäikirche frei wurde, habe ich zugegriffen. Wenn ich in die Oper gehe, kommt manchmal schon der große Seufzer. Aber ich habe hier an St. Nikolai enorme Möglichkeiten. Der Job ist traumhaft – ich könnte mir nichts Besseres vorstellen. Ich möchte mit keiner Stelle in Deutschland tauschen!

Telemann: Das befreite Israel TWV 6:5

Rheinische Kantorei

Das Kleine Konzert

Hermann Max (Leitung) 1998

cpo

Das Stück kenne ich nicht. Homilius? CPE Bach? Ein später Telemann? An den Hauptkirchen fühlt man schon eine große Verbundenheit mit der Tradition, und vielleicht wir an Nikolai ganz besonders, weil wir die alte Kirche in der Innenstadt aufgegeben haben. Mich persönlich interessiert besonders das 17. Jahrhundert, das war das Musikjahrhundert schlechthin für Hamburg. Ich habe gerade mit der Seniorenkantorei eine Kantate von Jakob Weckmann gemacht, Wenn der Herr die Gefangenen aus Zion erlösen wird – das ist eine Musik, die einen umhaut, weil sie derart intensiv den Text ausdeutet… Dieser Telemann hier ist ok. Aber es gibt auch vieles von ihm, was ich länglich finde. Es gibt so viel Musik, die sich lohnt aufzuführen. Wir machen jedes Jahr das Weihnachtsoratorium und eine Passion, da bleiben nur zwei weitere Oratorienkonzerte. Im Juni machen wir die Eroica und die C-Dur-Messe von Beethoven – beides Stücke, die er sozusagen für Paris komponiert hat. Man kann die Eroica so interpretieren, dass Beethoven darin die Völker Europas zur Revolution aufruft – und ich finde es spannend zu sehen, was davon später in der Messe übrig geblieben ist. Ich habe letztens das Brahms-Requiem kombiniert mit Pfitzners Das dunkle Reich, das eine Art Fortsetzung des Brahms-Requiems ist, mit identischer Besetzung. So etwas interessiert mich. Das provoziert natürlich wieder die Frage: Darf man Pfitzner aufführen? Ich finde: ja, da muss man trennen zwischen Werk und Biografie – das muss man bei Wagner schon. Pfitzners Musik ist großartig, auch die muss gehört werden. Und das mache ich dann lieber als Telemann.

Beethoven: Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 „Eroica“

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen

Paavo Järvi (Leitung) 2005

RCA Red Seal

Das ist sehr schnell. Sehr tänzerisch. Die Aufnahme kenne ich nicht, aber sehr interessant. Ich habe mal Rattle mit der Matthäus-Passion in Berlin erlebt, mit dem Berliner Rundfunkchor in einer szenisch angedeuteten Fassung. Das war dermaßen gut – Rattle würde ich diese Aufnahme hier zutrauen. Die ist schon toll, auch vom Orchester her, aber ich finde, manche Details gehen unter, wenn man es zu schnell macht… Ich will Musik machen, die uns auch politisch etwas sagen kann. Nehmen Sie Mendelssohns Elias: Das Zentrum des Werkes ist die Gottes­erscheinung am Berg Horeb, wo sich Elias‘ Gottesbild vollkommen ändert, wo dieser Fanatiker umgedreht wird. Da nimmt Mendelssohn eine Musik, die jüdischen Ursprungs ist, aber auch eine christliche Tradition hat: Der Herr ging vorüber, eine Melodie mit Quinte und kleiner Sexte, die in der Synagoge gesungen wird, die aber auch schon Luther benutzt hat. Da sagt uns Mendelssohn: Lassen wir doch das Kämpfen zwischen den Religionen! Den Elias unter diesem Blickwinkel der religiösen Toleranz aufzuführen – so etwas finde ich wichtig.

Buxtehude: Toccata in F BuxWV 156

Agnes Luchterhand

an der Arp-Schnitger-Orgel in Norden 2007

MDG

Schöne Orgel! Ich muss dazu sagen: Ich bin überhaupt kein Organist. Als ich mich damals beworben habe an St. Nikolai, kam die freche Frage: Was können Sie denn nicht? Da habe ich die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und gesagt: Orgel spielen. Dabei bin ich immer nervös. Wenn sie einen virtuosen Organisten suchen, bin ich der Falsche. Sie haben mich trotzdem genommen. Ich gebe schon auch Orgelkonzerte, aber meist Musik in Kombination mit Texten wie in Duprés Der Kreuzweg, und ich spiele sehr gern Messiaen. Auch das Spielen im Gottesdienst ist eine Herausforderung, weil man da ja improvisiert und versucht, auf die Texte, die vom Pastor kommen, zu reagieren. Gestern zum Beispiel wurde von den Konfirmanden „Höre Israel“ gelesen, danach kam Großer Gott, wir loben dich. Und da habe ich versucht, im Vorspiel den Anfang des zweiten Teils aus Mendelssohns Elias, „Höre Israel“, einzuflechten. Der Chor hat‘s gemerkt, die Gemeinde natürlich nicht. Aber so etwas macht Spaß. Leider ist die Orgel an St. Nikolai eine Katastrophe, eine Peter-Orgel von 1966 mit elektrischer Traktur. Man hat kein Griffgefühl, man kann den Ton nicht gestalten, und es ist auch keine Grundtönigkeit vorhanden. Wir sind jetzt dabei, ein Konzept zu entwickeln, um die Orgel zu modifizieren. Es gibt einige verrückte Sachen wie ein Rohr-Krummhorn 16-Fuß, doppelt überblasene Flöten usw., die wir bewahren wollen. Aber wir wollen die Orgel neu intonieren, um weitere Stimmen ergänzen und mehr auf neue Musik ausrichten.

Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung

Transkription von Hansjörg Albrecht

Hansjörg Albrecht an den Orgeln in St. Nikolai Kiel 2008

Oehms Classics

(lacht bei den ersten Tönen) Man lächelt heute ein bisschen darüber. Aber durch Transkriptionen wurden im 19. Jahrhundert viele Werke verbreitet, in Versionen für Klavier natürlich, aber auch für Orgel. Ich finde das legitim. Ich habe selber Sachen transkribiert, das Tristan-Vorspiel zum Beispiel. Ich darf es eigentlich gar nicht laut sagen: Ich bin ein großer Wagnerianer. Als meine Orgellehrerin hörte, dass ich Wagner auf der Orgel spielen würde, sagte sie, ich solle doch richtige Orgelmusik spielen und nicht meine Zeit mit so einem Quatsch vertun. Aber es ist doch großartige Musik! Welche Orgel ist denn das hier? Kiel Nikolai? Das ist eine irre Anlage! Hansjörg Albrecht? Der macht ja gern sowas. Sauschwer, wenn er hier wirklich mit den Füßen trillert…

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!