91 Register, 6 638 Pfeifen, vier Manuale: Die große Schuke-Orgel im Neuen Gewandhaus zu Leipzig ist die Heimat von Michael Schönheit. 1986 wurde der gebürtiger Saalfelder, 24-jährig, hier zum Nachfolger der Organisten-Legende Matthias Eisenberg berufen – im Gespräch blickt der renommierte Musiker auf drei Jahrzehnte erfüllter Konzerttätigkeit zurück.
30 Jahre Gewandhausorganist – macht’s nach so langer Zeit noch immer Spaß?
Auf jeden Fall. Ich kann es gar nicht fassen, dass es schon so eine lange Zeit ist. Und die vergeht schneller, als man denkt – sicher ein gutes Zeichen. Es waren durchweg künstlerisch und menschlich reiche Jahre. Und ich wurde immer wieder angeregt, neue Wege mit den wunderbaren Musikern des Gewandhausorchesters zu beschreiten.
Sie sprechen so im Präteritum. Wie lange machen Sie es denn noch?
Als ich anfing, war mir schon klar, dass mich das Amt ein Leben lang prägen wird. Wie lange, hängt natürlich in erster Linie von meiner Gesundheit ab. Ich hoffe, noch lange!
Daneben haben Sie auch Lehraufträge, planen die Merseburger Orgeltage, sitzen in Jurys von Wettbewerben …
… in meinem Leben vergeht kein Tag ohne Musik, selbst in den Ferien: So gesehen habe ich keine freie Zeit. Meine Frau ist ja hier am Gewandhaus auch Musikerin – und die Merseburger Domorgel ist für mich eine große künstlerische Bereicherung, die meine gesamte musikalische Arbeit entscheidend prägt.
Was macht den Unterschied zwischen einer Konzert- und einer Kirchenorgel?
Den gibt es nur im Hinblick auf ihre Aufgaben. Ich versuche aber im Gewandhaus, mich in meinen Programmen am Kirchenjahr zu orientieren. Atmosphärisch ist auch Kirche nicht gleich Kirche, da gibt es große akustische Unterschiede. Zum Beispiel ist für die Musik Bachs ein eher trockener Raum günstig.
Nehmen Sie das Publikum denn anders wahr?
Ich sitze mit dem Rücken zum Publikum, bemerke es aber immer, ob es im wahrsten Sinne des Wortes hinter mir steht oder nicht. Das spüren Sie auch in einer Kirche.
Aber sind nicht die Erwartungen in einer Kirche andere als in einem Konzertsaal?
Das Kernrepertoire ist schon das gleiche, aber sicher gibt es Werke, die ich in einer Kirche nicht spielen würde. Zum Beispiel haben wir vor kurzem ein sinfonisches Werk von Korngold zu vier Händen aufgeführt, darauf käme man in einem Gotteshaus nicht. Umgekehrt denke ich auch an einige meditative Werke von Franz Liszt, die ganz bewusst die Kirchenakustik mit einrechnen und in diesem Raum ihre Wirkung am besten entfalten. Liszt hat ja einige Stücke der Merseburger Orgel sozusagen auf die Pfeifen geschrieben.
Wie oft sind Sie tatsächlich an sinfonischen Konzerten beteiligt? Denn so viele Orchesterwerke mit Orgelbeteiligung gibt es ja nicht …
… das würde ich so nicht sagen. Pro Jahr bin ich in drei Konzertserien besetzt, dazu kommen die Soloparts, das Continuospiel und zwei Kammermusiken. Den Schwerpunkt bilden natürlich meine solistischen Orgelkonzerte.
Woher rührt es eigentlich, dass Sie der einzige fest angestellte Konzertorganist Deutschlands sind?
Die Orgel hier hat immer eine große Rolle gespielt, sie war vom ersten Moment an für solistische Aufgaben gedacht. Kurt Masur hat damals schon einen eigenen Solospielplan angestrebt. Das hat sich bis heute erhalten, wir können ein sehr farbiges Programm anbieten.
Sie sind einer der dienstältesten Gewandhausmusiker. Wie haben Sie 1989 den Wandel erlebt, der ja in diesem Hause eine sehr prominente Bühne hatte?
Wenn man mittendrin lebt, weiß man nicht genau, wo das hinführen wird. Ich habe die Stadt kennengelernt als eine Metropole der Musik – im Gegensatz zur maroden Bausubstanz. Dieser auch im übertragenen Sinne morbide Charme begegnete einem an jeder Stelle in den letzten Jahren der DDR, als ich hier anfing. Das Gewandhaus als Neubau war damals wie eine Insel, eine andere Welt: Das ging schon damit los, dass Sie von freundlichem Personal empfangen wurden. Wir haben hier schon eine ganz andere Freiheit genossen – daraus hat sich der Wandel speisen können. Natürlich hatten wir Angst, auch Masur: Aber wir wussten, dass sich etwas ändern muss, denn so konnte es nicht weitergehen.
In den ersten Jahren Ihrer Tätigkeit am Gewandhaus waren Sie gleichzeitig Kantor in Ihrer Heimatstadt Saalfeld – sicher eine gänzlich andere Erfahrung als in Leipzig.
Dort war ich für 250 Menschen in drei Chören verantwortlich und bangte 1989 jedes Mal darum, ob die Eltern ihre Kinder aus der Probe würden abholen können: Es hätte ja immer etwas passieren können. Man muss schon sagen: Es war eine gespenstische Situation. Je länger die Zeit zurückliegt, desto mehr kehren die Erinnerungen daran zurück – und umso dankbarer habe ich die errungene Freiheit genossen, die der Wandel in unserer Gesellschaft mit sich brachte.
Auch heute geht es nicht ohne echte oder vermeintliche Modernisierung. Wie halten Sie es mit Crossover-Kollegen wie Iveta Apkalna oder Cameron Carpenter?
Beide haben hier schon gespielt. Ich versuche, alle Strömungen der Orgelmusik in unser Programm einzubinden.
Aber ist das Publikum für Orgelmusik nicht noch viel kleiner als das für klassische Musik ohnehin schon?
Natürlich sind Orgelkonzerte in dieser Fülle etwas Außergewöhnliches: Bei uns führt die Orgel kein Nischendasein. Ganz wichtig sind eingeführte Konzerttermine, zum Beispiel um den Jahreswechsel oder um Ostern herum. Im Mai und um den Reformationstag planen wir Festivals der Orgelmusik, die sich langsam einen Platz im Bewusstsein des Publikums erobert haben. Erstmals haben wir in dieser Saison mit großem Erfolg ein Afterwork-Konzert angeboten. Mit Familienkonzerten, die wir regelmäßig anbieten, führen wir ein junges Publikum an die Orgel heran – am schönsten aber sind die Führungen mit kleinen Kindern, die am neugierigsten sind: Dafür nehmen wir uns sehr viel Zeit. Wichtig ist indes auch die Kontinuität: An den Würzelchen müssen wir arbeiten, nicht nur am Event – und vor allem müssen wir gute Musik aufführen.