Seinen Hauptwohnsitz hat Muhai Tang in Shanghai, sein geistiges und musikalisches Zuhause aber ist Europa. Im November leitet Tang, der in München und bei Herbert von Karajan studierte, Konzerte mit den Duisburger Philharmonikern.
Herr Tang, worum geht es Ihnen beim Dirigieren?
Ich konzentriere meine Arbeit, zusätzlich zur rein technischen Seite, gerade auf die Mentalität des Musizierens, auf den richtigen Geist. Ich möchte vermitteln, was glückliches Musizieren ist und wie glücklich es machen kann. Es mag jetzt ein bisschen romantisch klingen: Aber wie oft spricht man doch davon, dass uns Musik so himmlisch vorkommt? Es geht um genau diese Sehnsucht, in diesen Bereich zwischen Realität und Nicht-Realität einzudringen. Das Zusammenspiel muss stimmen, die Intonation, all das. Aber darüber hinaus muss ich die Musiker dazu befreien, ihre eigene Kreativität einzubringen.
Was ist Ihnen bei der Programmplanung wichtig?
Ein Orchester darf keine Stärken und Schwächen in einzelnen Bereichen mehr haben, es muss das gesamte Repertoire, den Barock eingeschlossen, stilsicher interpretieren können. Und es muss überall zu Hause sein, auch im französischen, italienischen, amerikanischen oder, warum eigentlich nicht, im chinesischen Repertoire. Die ganze Welt öffnet sich. Die Berliner Mauer gibt es nicht mehr. In der Musik darf es erst recht keine Mauern mehr geben.
Wenn Sie von durchlässig gewordenen Grenzen sprechen, denken Sie da auch an Ihre eigene Biographie?
Meine Jugend habe ich noch in einem China erlebt, das vielleicht mit dem heutigen Nord-Korea vergleichbar ist. Heute ist China eine riesige, verrückte Maschine, die fast wie ein Supermarkt funktioniert. Die Öffnung der Welt ist unglaublich. Wer es sich leisten kann, fliegt zum Mond. Auch ein Orchester sollte wirklich wach und offen sein, die eigenen Gewohnheiten in Frage zu stellen, neue Stilrichtungen auszuprobieren, alle Sinne zu schärfen, um ganz empfindsam einer suchenden Welt zu begegnen. Und auf dieser Suche den eigenen Idealismus, die eigene Spiritualität, das eigene Ziel zu finden. In unserer technisierten Welt, in der man ein Computerspiel bis zum eigenen Tod spielen kann, wächst der Musik eine enorme Aufgabe zu. Sie vermittelt uns, wie wunderschön und menschlich die lebendige Kunst sein kann. Musik ist doch wie frisch gekochte Pasta, sie schmeckt erst, wenn wir aus dem toten Papier der Noten immer wieder aufs Neue eine köstliche Speise zaubern. Jeder Musiker und Dirigent macht da ein unglaubliches Angebot an das Publikum.
Wie unterscheiden sich die Zugänge zur europäischen Musikkultur in Europa und in China?
In China gehört ein Beethoven nun mal nicht zur eigenen Kultur. Eine fremde Kultur erschließt man sich nicht, nur weil man sie faszinierend findet. Der innere Zugang fehlt immer noch. Es gibt natürlich ein paar gute und auch prominente Solisten und Sänger aus meiner Heimat, denen aber manchmal vorgeworfen wird, nicht wirklich die Seele der Musik zu erspüren. Im Vergleich zur Größe des Landes sind das aber eher wenige. Der Aufschwung Chinas hat mit Kultur noch wenig zu tun. Wohin China kulturell steuert, ist schwer zu sagen. Ich selbst habe sehr lange Zeit gebraucht, bis ich europäische Klassik sozusagen verdaut und absolut verinnerlicht hatte und nicht einfach kopiert habe, was ich für Tradition hielt. Es gibt in China gigantische Konservatorien. Was können die leisten? Das sind vielfach Fabriken. Da lernt man allein die technische Seite der Musik, die richtigen Fingersätze usw. Das kriegt man ja alles irgendwie hin, oft auch ganz gut. Manche Fächer erzielen Erfolge, die Geigenschule zum Beispiel ist nicht schlecht. Die Klavierschule ist zum Teil sogar sehr gut. Aber im Allgemeinen ist die Ausbildung doch weit weg von hiesigen Standards, sie ist nicht international genug. Der Kontakt nach außen muss regelmäßig und ganz natürlich werden, dann wird ein unglaublicher Schub kommen. Aber da müssen wir noch warten. Die Regierung beginnt zwar davon zu reden, dass Geld und Wohlstand nicht das einzig Wichtige sind.
Aber die Realität ist noch eine andere. Früher gab es zu viel Idealismus, man arbeitete nur aus Liebe und verdiente nichts, jetzt hat sich alles um 180 Grad gedreht. Das ist für einen Künstler zu viel. Ich kann jedenfalls nicht arbeiten, wenn ich nicht das glückliche Leuchten in den Augen der Musiker sehe. Meine Arbeit als Dirigierprofessor in Shanghai habe ich deshalb aufgegeben. Ich halte dieses Fabriksystem, in dem es darum geht, möglichst viele zahlende Studenten durchzuschleusen, für falsch. Da fahren manche Lehrer im Porsche oder Ferrari vor. Mein Stil ist bescheidener. In Europa ist meine Seele ruhiger. Mein geistiges Zuhause ist Europa geworden. Dazu hat mir Herbert von Karajan verholfen: Er schrieb damals nach China, dass Muhai Tang nach seinem Studium in München unbedingt in Europa bleiben solle. Durch ihn konnte ich dann alle Proben der Berliner Philharmoniker erleben. Mein Verstehen und meine Neugierde wuchsen mit jedem Tag.