Es schien sich aufzuhellen. Im Spätsommer, als das Telefoninterview stattfand, war der erste Lockdown vorüber und das neue Album befand sich in der Endabmischung. Nicholas Lens schien zufrieden: Zusammen mit dem australischen Rockpoeten Nick Cave und einigen ausgewählten Musikern hatte er es geschafft, die Corona-Krise kreativ zu nutzen. Eigentlich als Rückblick geplant, erhalten die zwölf fertiggestellten Litaneien nun eine neue Wucht. Man könnte meinen, jeder einzelne Monat dieses furchtbaren Jahres greife nach seinem eigenen Bittgesang.
Die Arbeit am Album fiel mitten in den Lockdown. Ein Schock oder Inspiration?
Ich kam gerade von einer langen Reise zurück. Ich war in Laos, da fahre ich jedes Jahr hin, um ausgedehnt zu biken und Ruhe zu finden. Dann kam ich zurück nach Brüssel und kurze Zeit später befand mich plötzlich in einer ganz anderen Art von Ruhe. Ich hatte zwei Opern fertiggestellt und hätte eigentlich die Aufführungsorte besucht, um die Produktionen zu besprechen. Aber nichts ging mehr, die Aufführungen waren auf unbestimmte Zeit verschoben. Da wurde mir erst klar, wie ernsthaft und schrecklich die Situation war. Es gibt immer Hochs und Tiefs in der Arbeit, aber das hier war neu. Ich arbeite sehr gerne. Also sagte ich mir: Mach etwas anderes. Ich hatte jede Menge Eindrücke von der Reise mitgebracht. So ergab sich schnell und unmittelbar die Idee für eine neue Komposition. Das Moment der Wiederholung, das man in Litaneien findet, bot die Basis für die Arbeit.
Die zwölf Litaneien tragen den Untertitel „Petititions to a Divine Maker“. Der Adressat ist also nicht unbedingt der christliche Gott, sondern einer jedweder Glaubensrichtung?
Litaneien kommen zwar aus der christlichen Liturgie, werden aber auch in buddhistisch geprägten Ländern praktiziert. Dort wird es als ursprüngliche Form der Poesie angesehen. Die Musik, die lyrische Form und spezielle Phrasen werden wiederholt, um sich in einen Zustand der Trance zu versetzen – aber nicht unbedingt nur zu diesem Zweck. Es wird als eine eigene Kunstform angesehen. In unserem Kulturraum finden sich die Wurzeln in der Gregorianik, mit der ich mich immer wieder beschäftige. Diese eigene dramaturgische Struktur hat auch Nick Cave interessiert, den ich ansprach, gleich nachdem mir die Idee kam. Er war sofort angetan, weil wir bereits einmal zusammengearbeitet hatten. Der Prozess des gemeinsamen Herantastens hat damals wunderbar funktioniert, und auch diesmal war es so. Insbesondere die Form der Repetition hat ihn angesprochen, nicht im religiösen Sinne, sondern für die Art von Lyrik, die er bevorzugt. Zusammen ergibt unsere gemeinsame Arbeit im vorliegenden Fall eine Art Kammeroper, so würde ich es bezeichnen.
Warum passen Litaneien in diese spezielle Zeit der Krise?
Sie beschreiben gleichzeitig einen Zustand und einen Nicht-Zustand. Ein Bitten und ein Warten auf die Antwort. Ein Trance-Zustand, oder wie wir im Französischen sagen: une voyage. Denn du weißt nicht genau, wann es endet. Dass wir insgesamt zwölf Stücke geschrieben und aufgenommen haben, ist übrigens purer Zufall. Es hörte sich richtig an. Die Zwölf ist ja eine symbolisch stark aufgeladene Zahl. Jeder kann für sich selbst entscheiden, was er dahinter vermutet.
In der Mitte des Albums findet sich das Stück „Litany of Fragmentation“. Auf was beziehen sich diese Fragmente?
Man kann sich jeden Menschen als Fragment vorstellen. Jeder besteht aus unterschiedlichen Teilen. Diese Teile können unter gewissen Umständen auseinanderfallen. Aber jeder Mensch ist auch in der Lage, sich sozusagen neu zusammenzusetzen, ein neues Ich zu finden – beziehungsweise zu erfinden. Aber man muss nicht unbedingt jeden Titel des Albums aufschlüsseln. Wir bieten mit der Musik und den Worten etwas an. Jeder kann dann seine eigene Interpretation finden. Eine Art Mindset. Manchmal sind die Gedanken und Beweggründe abstrakt, manchmal sehr direkt. Jeder erfindet seine eigene Geschichte. Es hat auch mit Bewusstsein zu tun. Wie man sich auf eine andere Ebene des Bewusstseins begibt, was man über sich selbst erfahren kann. Oder wie man sich verliert und selbst ganz vergisst. Das ist äußerst spannend.
Hat der Lockdown Ihre Konzentration gefördert?
Auf jeden Fall. Es war eine Art Parallelwelt, in der wir uns befanden. Die Arbeit ging wahnsinnig schnell. Es war alles plötzlich da. Wir haben im März angefangen, im Sommer waren wir fertig. Das war eine der schnellsten Produktionen, die ich jemals abgeschlossen habe! Nick Cave und ich haben unsere ganze Leidenschaft in dieses Projekt gesteckt, es gab sprichwörtlich nichts anderes. Das passierte sicher auch anderen Künstlern in dieser seltsamen Situation. Das gilt allerdings nicht für die ausführenden Künste. Tänzer, Schauspieler, Orchestermusiker können nicht auftreten. In den Theatern und Konzertsälen herrscht absolute Stille und Reglosigkeit. Eine Situation wie in einem Gruselfilm. Leider ist sie absolut real.
Was bedeutet Stille für einen Komponisten?
Stille und Kontemplation sind für mich eine reiche Quelle. Sie fördern das Zuhören. Eine geradezu magische Stille habe ich in den Rinzai-Zen-Tempeln in Japan erfahren. Ich gehe auch gerne raus in die Natur und höre den Vögeln zu. Das sind großartige Musiker! Und was sie produzieren, kann sehr komplex sein. Manchmal sogar atonal. Ich habe es nie verstanden, warum Menschen sogenannte disharmonische oder atonale Musik verabscheuen und gleichzeitig den Gesang von Vögeln lieben. Sie denken, es sei harmonisch, weil es ja aus der Natur kommt. Was ich persönlich dagegen verabscheue, ist Hintergrundmusik. Man setzt sich in ein Taxi und sofort schreit einem das Radio entgegen. Das ist furchtbar! Man geht einkaufen, wird am Telefon in einer Warteschleife gefangen oder sitzt in einem Warteraum – und überall wird man unerwünschter Musik ausgesetzt. Das ist Sound Pollution. Meistens ist die Musik von geringer Qualität, weil niemand für teure Aufführungsrechte zahlen will. Vögel dagegen fragen nicht nach Aufführungsrechten. Sie singen einfach. Das ist doch fantastisch!
Macht Corona uns bewusst, wie laut unsere Welt im Normalzustand ist?
Kann man so sagen. Du wirst überschüttet mit Musik, die du weder magst noch brauchst. Früher war man neugierig auf Musik, als sie noch nicht überall präsent und jedem verfügbar war. Klassik-Liebhaber nahmen lange Reisen in Kauf, um in Wien oder Paris einer Uraufführung beiwohnen zu können. Es gab keine unerwünschte Musik. Ganz im Gegenteil. Als Komponist höre ich in allem Musik, 24 Stunden am Tag – und wenn ich es will, beschäftige ich mich damit und bringe die Ergebnisse zu Papier. Aber wenn ich zuhören muss, höre ich gar nichts mehr.
Was ist mit Rock- und Popmusik? Tut die auch weh?
Nicht unbedingt. Man muss allerdings dazu sagen, dass ich in einer klassisch geprägten Familie aufgewachsen bin. Meine Mutter war Pianistin, mein Bruder ist Sänger. Als Kind habe ich nur klassische Musik gehört, das änderte sich dann aber im Teenageralter. Meine Freunde in der Schule hörten ganz andere Musik. So wurde ich zum Beispiel auf Jethro Tull, Black Sabbath und Jimi Hendrix aufmerksam.
Was war Ihre erste eigene klassische Schallplatte?
Daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Ich weiß aber noch, wie meine Eltern ihre erste Stereoanlage kauften. Ein unförmiges Ding, eher ein Möbelstück. Man musste es öffnen und tief hineingreifen, um die Platten umzudrehen. Als ich einmal allein im Haus war, habe ich Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ aufgelegt. Man konnte die Lautstärke aber nicht richtig aufdrehen. Also habe ich meinen Kopf in die Anlage gesteckt, so dass es eine Art Klangraum ergab. Oder besser: Kopfhörer avant la lettre. Ein großartiges Erlebnis. Und dann stand meine Familie plötzlich im Raum … Sie können sich vorstellen, was das für ein Bild war (lacht)!
Hören Sie noch heute Musik auf dem Kopfhörer?
Kommt vor, muss aber nicht sein. Ist auch irgendwie ein fremdes Gefühl, so isoliert von der Umwelt. Schauen Sie sich die Leute an, die im Wald mit Kopfhörern joggen gehen und laut aufdrehen. Im Wald, in der Natur! Warum suche ich diese Orte auf? Um meinen Kopf aufzuräumen, um frische Luft zu atmen und etwas Gutes für meine Gesundheit zu tun. Aber doch nicht mit einem Headphone zwischen den Ohren und dem Gehirn! Und nicht nur das Gehör wird dabei verwirrt, auch die Augen. Die Jogger sehen keine Natur, sondern nur noch die Strecke und die Challenge.
Gibt es einen Ort, wo Sie ohne Jogger und nervige Taxifahrer auf andere Gedanken kommen?
Ja, Venedig. Ich bringe die Hälfte des Jahres dort zu. In Venedig herrscht eine natürliche und angenehme Art der Stille, die mich beim Komponieren unterstützt. Es gibt keinen gewöhnlichen Straßenverkehr, die Klänge und das Licht sind anders als in betonierten Städten. Man lebt nicht am Wasser, sondern auf dem Wasser. Die Energie kommt von unten. Ich habe schnell gemerkt, dass ich an diesem besonderen Ort eine gute Disziplin entwickeln kann. Ich stehe früh auf, nehme einen Caffè Lungo und starte in den Tag. Um acht Uhr fange ich mit der Arbeit an, die bis in den Abend reicht. Ich nehme einen Aperitivo mit meinen Freunden und genieße die Zeit. Im Moment ist das natürlich etwas schwierig. Aber wie man sieht: Man kann mich einsperren, aber ich schreibe trotzdem Musik. Es geht nicht anders.