Unter den jungen russischen Klaviervirtuosen, die seit einigen Jahren Furore machen, hat er die Nase vorn – zumindest auf dem Plattenmarkt: Nikolai Tokarew, 1983 in Moskau als Sohn eines Pianisten und einer Cellistin geboren, ist seit 2007Jahren Exklusiv-Künstler der Firma Sony Classical. 2010 erschien seine Einspielung von Tschaikowskys erstem und Rachmaninows drittem Klavierkonzert.
Herr Tokarew, Sie sind der erste Pianist, der Tschaikowskys erstes und Rachmaninows drittes Klavierkonzert auf einer Doppel-CD präsentiert. Warum diese Kombination?
Ich hatte beide Werke oft gespielt, jetzt war es an der Zeit, sie aufzunehmen. Ich hatte ein Orchester gefunden, mit dem ich mich gut verstanden habe. Es sind zwei der berühmtesten, größten, romantischsten Konzerte, insofern macht es Sinn, sie zu koppeln. Und viertens: Ich kenne keine Aufnahme mit beiden.
Gibt es etwas, das sie verbindet?
Nicht wirklich. Rachmaninow bewunderte die Musik von Tschaikowsky, das dritte Konzert ist der Gipfel seines Schaffens.
Wenn Sie beide Werke schon so lange gespielt haben – haben Sie fest gefügte Ansichten zur Interpretation?
Es ist jeweils eine Ansicht, und ich habe viele (lacht). Ich spiele jedes Werk in jedem Konzert anders, sonst wäre es mir zu langweilig. Nicht in der Grundanlage, aber im Detail. Ich mache etwas langsamer oder schneller, lauter oder leiser, atme anders, das bringt Leben in die Musik. So ein Werk zu hören muss sein, wie wenn man im Kino einen Blockbuster guckt – voller Leben.
Warum haben Sie erst jetzt russisches Repertoire aufgenommen?
Ich wollte kein Pianist werden nur für Johann Sebastian Bach oder für russische Musik. Ich will die ganze Bandbreite des Repertoires für mein Instrument machen. Bei der ersten Platte hatte ich das Angebot von der Sony, zwei Monate später haben wir die CD aufgenommen. Ich hatte das Programm in meinen Fingern und die Idee in meinem Kopf. Danach wollten wir eine russische Platte machen. Aber es ist schwierig, ein Orchester zu finden.
Es gibt doch viele russische Orchester.
Ja, aber es muss gut sein und Zeit haben. Dieses Orchester ist erst sechs Jahre alt und zählt über hundert Musiker, deshalb klingt es so massiv. Wichtig ist natürlich die Beziehung zum Dirigenten. Vladimir Spivakov kennt mich, seit ich ein Kind war, ich war Stipendiat seiner Stiftung. Wir haben die gleichen Ideen zu diesen Werken. So kam alles zusammen.
Reicht Ihr Repertoire von Bach bis heute?
Ja, aber ich spiele nicht viel neue Musik. Manchmal auf Festivals Webern oder Alexander Rosenblatt, früher habe ich auch Ligeti und Messiaen gespielt. Ich finde es schwierig, etwas wirklich Interessantes in der neuen Musik zu finden. Die modernen Komponisten sind dabei, das Verständnis von Musik, das wir seit Jahrhundert haben, aufzugeben. Ich habe mal in Darmstadt gespielt, weil ein Freund von mir im Moskauer Studio für neue Musik spielt. Das war wirklich wild, was die da gespielt haben. Ich denke, unsere Psyche muss sich dem anpassen, und das dauert. Was sie machen, ist wichtig – sie suchen nach neuen Wegen. Aber es klingt manchmal sehr anders. Neue Musik ist gut, wenn es Musik ist. Aber manchmal sind es nur Klänge. Das ist das Problem. Vielleicht verstehen wir es auch nur noch nicht.
Kritiker schreiben gern: Sie spielen mit russischer Seele.
Natürlich habe ich eine russische Seele, ich bin Russe. Aber jeder gute Pianist kann diese Musik spielen, er muss nur ein Gespür entwickeln.
Sie haben auf der Gnessin-Schule in Moskau studiert, dann in Manchester und bei Barbara Szczepanska in Düsseldorf.
Sie ist Polin, aber ganz in der deutschen Musik zu Hause. Heute ist alles gemischt. Amerikaner haben russischen Lehrer, viele Russen gehen nach Europa oder in die USA. Ich habe in drei verschiedenen Ländern studiert, habe viele Leute gehört.
Aber das technische Fundament aus der russischen Schule ist schon sehr wichtig, oder?
Wir haben einen anderen Weg des Lernens in Moskau. Meine Lehrerin in Moskau sah Talent bei mir, meinte aber, ich müsse viel üben. Unser Unterricht war immer sehr lang, weil sie mich erst gehen ließ, wenn wir ein Ergebnis erzielt hatten. Sie sagte mir etwas, ich musste es tun, und wenn ich es nicht konnte, musste ich es wiederholen und wiederholen – so lange, bis ich es konnte. Der Unterricht hat manchmal vier Stunden gedauert – dreimal die Woche.
Und den Rest der Woche saßen Sie zu Hause und haben geübt?
Ja. Als ich jung war, von sieben bis 15 etwa, habe ich acht, manchmal zehn Stunden am Tag gespielt. Ich bin aufgewacht, habe geübt, gefrühstückt, geübt bis zum Mittagessen. Nach dem Essen Pause gemacht, dann wieder geübt. Am Abend konnte ich was anderes machen, mit Freunden spielen oder so. Das war mein Leben – und ist es immer noch.
Ein einsames Leben.
Manchmal schon. Aber ich kann nicht sagen: Ich hätte keine Kindheit gehabt. Ich habe viel Fußball gespielt, mit Freunden gespielt, aber eben auch geübt.
Wie sind Sie zur Musik gekommen?
Meine Eltern waren Musiker, meine Großeltern waren Musiker. Meine Großmutter war Sängerin, mein Großvater Pianist, und wenn sie zusammen Musik gemacht haben, habe ich sie immer gebeten, noch mehr zu spielen. Sie sahen, dass ich Musik mochte – so ging es los. Ich würde etwas anderes machen, wenn ich etwas anderes lieben würde. Aber ich liebe die Musik.
Ihre Eltern haben Sie nicht gezwungen?
Naja, wenn man klein ist, will man nicht immer acht Stunden am Tag üben. Manchmal sagten sie mir: Du musst üben.
Würden Sie Ihren Kindern diesen Weg empfehlen?
Wir werden sehen. Meine Eltern wollten anfangs gar nicht, dass ich Musiker werde, es waren harte Zeiten für Musiker, als die Sowjetunion kollabierte. Aber sie sahen, dass ich Talent habe, und meine Lehrer überzeugten sie. Ich war einer der besten in meiner Schule, seit ich klein war. Ich war der Beste in meinem Jahrgang. Und da sagten sie sich: Dann muss er diesen Weg gehen. Wenn ich Kinder habe und sie Musik mögen, werde ich sie Musik machen lassen. Ich denke, Musikerziehung macht die Menschen besser: Sie denken mehr, sie verstehen mehr von jeder Art von Kultur. Ich würde ihnen auf jeden Fall Unterricht ermöglichen. Aber wenn sie etwas anderes lieber wollen, sollen sie das tun.
Setzen sich gute Musiker durch – oder gehört auch viel Glück dazu?
Man braucht Glück. Man muss durchsetzungsfähig sein. Man muss üben. Und man braucht Talent.
Viele Wunderkinder gerade aus den russischen Schulen können sich später nicht durchsetzen.
Das hat zwei Gründe. Das erste Problem sind die Eltern. Die müssen sehen, ob ihr Kind wirklich talentiert und geduldig genug ist und die Persönlichkeit hat. Man kann Kindern alles beibringen, sie sind offen für alles. Leider denken viele Eltern, ihr Kind sei ein Genie und zwingen es zu üben und sagen ihm dauernd, wie toll es sei. Irgendwann glaubt das Kind, es sei wirklich das Beste. Aber wenn es das nicht ist, wird es eines Tages scheitern. Das zweite Problem ist der Übergang vom Wunderkind zum reifen Musiker, da muss man einen Weg finden, das ist ein sehr gefährliches Alter. Bei mir war es so, dass ich mich verloren gefühlt habe – obwohl ich die Musik wirklich geliebt habe und auch Erfolg hatte. Ich hatte Glück, dass ich einen Lehrer in Manchester fand, der mir geholfen hat, da habe ich mich wiedergefunden. Es gibt viele Wunderkinder, die diese Klippe nicht meistern.
So viele Russen verlassen ihr Land. Sie auch?
Ich pendle zwischen Moskau und Düsseldorf. Mein Wohnort ist eigentlich Moskau. Aber Düsseldorf ist sehr komfortabel, es ist mitten in Europa, man kommt schnell überall hin mit dem Flugzeug oder der Bahn. Deutschland oder auch Österreich sind perfekte Länder für Musiker. Ich mag Moskau wirklich gern, aber es ist so eine riesige Stadt, kein guter Ort für Musiker. Es dauert so lange, von einem Ort zum anderen zu kommen, es gibt zu viel Verkehr. In Düsseldorf kann ich fünf Dinge am Tag erledigen und fühle mich immer noch gut. Wenn ich in Moskau zwei Dinge erledigt habe und nach Hause komme, bin ich erschöpft.
Haben Sie in Moskau Gelegenheiten zu spielen?
Man muss einen Namen haben. Viele Musiker spielen umsonst oder für sehr wenig Gage und können davon nicht leben. Ich kenne Leute, die mit mir an der Gnessin-Schule studiert haben, die jetzt im Business sind oder als Wissenschaftler arbeiten – und damit glücklich sind. Aber viele bleiben Musiker und müssen sich als Kellner oder so durchschlagen. Kellner ist ein ehrenwerter Beruf, aber wenn man zehn Jahre Geige studiert hat, ist das traurig.
Sie haben beim Geza-Anda-Wettbewerb 2006 in Zürich nur den zweiten Preis gemacht. Das hat mich überrascht.
Mich auch. (lacht) Aber ich war stolz darauf, dass ich den Publikumspreis gewonnen habe. Meine damalige Managerin hatte gesagt: Wir brauchen einige Konzerte in der Schweiz, spiel doch beim Wettbewerb, da lernen dich die Leute kennen, das ist wichtig.
War das der Beginn Ihrer Karriere?
Nein, die Sony hat mich nach meinem Erfolg beim Ruhr-Festival angesprochen. Als ich danach in Berlin Rachmaninow 3 gespielt habe, haben sie mir ein Angebot gemacht.
Sie sagten mal: Ich kann alles spielen, was ich will.
Stimmt, da gibt’s kein Limit. Aber das ist der Punkt, wo die Arbeit erst losgeht. Man muss einen Weg ins Stück finden, die richtige Atmosphäre, die richtigen Schattierungen, Stimmungen. Das ist eine große Aufgabe. Und das allerwichtigste ist der Klang, die Klänge zu entwickeln. Bei Glenn Gould hat jede Linie, jede Phrase, einen anderen Klang. Deshalb mag ich auch Grigori Sokolow so gern, da hört man jede Phrase.
Erarbeiten Sie Saison-Programme oder spielen Sie, was gefragt wird?
Für Solo-Rezitale habe ich pro Saison zweieinhalb Programme in den Händen, aus denen ich einen Abend zusammenstellen kann. An Konzerten spiele ich, was gefragt wird.
Und wenn jetzt ein Anruf käme, ob Sie heute Abend in der Philharmonie einspringen könnten?
Dann müssten wir sofort unser Gespräch beenden. Aber das ginge. Ich habe Stücke, die ich sofort spielen kann. Bei anderen Konzerten brauche ich zwei, drei Tage, um mich vorzubereiten.
Sie haben Ihren iPod vor sich liegen. Kommen Sie denn überhaupt zum Musikhören?
Ich habe immer meinen iPod dabei. Wenn ich nicht spiele, höre ich Musik, klassische Musik, Jazz, Blues, alles. Aber manchmal mache ich Pause, dann brauche ich Ruhe