Pünktlich und exakt wie eine Schweizer Uhr ist dieser Piotr Beczała, wartet bereits in seiner Künstlergarderobe an der Bayerischen Staatsoper. „Manche glauben ja, Unberechenbarkeit gehöre zum Tenor-Fach“, grinst der Sänger mit einem kleinen ironischen Seitenblick auf jenen berühmt-berüchtigten Kollegen, den er an diesem Nachmittag noch hören wird. Doch für den Sohn einer Näherin und eines Textilarbeiters war und ist Disziplin ein Teil des Erfolgs: „Die Konkurrenz schläft nicht, und die Welt wird müde, wenn jemand sich immer wieder als Diva aufspielt.“
Verdi: Rigoletto,
La donna e mobile
Carlo Bergonzi
, R. Kubelik
2005. Deutsche Grammophon
Das ist natürlich Bergonzi, ohne Frage – eine klitzekleine Nuance zu tief. Ein großer Stilist, weil er genauso gesungen hat, wie es in der Partitur steht, ohne pathetische Emphase, Extra-Effekte, übertriebene Akzente oder übertriebenes Legato. Und ohne jede Eitelkeit: ein ganz großer Verdi-Interpret. Da er so puristisch war, war er wohl beim Publikum nicht so beliebt, doch in Fachkreisen wurde und wird er sehr geschätzt: Für mich ist er musikalisch ein großes Vorbild. Verdi war ein Theaterpraktiker, er wusste, dass Tenöre etwas schlampig sind, und hat alles hineingeschrieben, was er wollte – und dennoch müssen es viele übertreiben.
Mozart: Die Entführung aus dem Serail, Hier soll ich dich denn sehen
Gösta Winbergh, Georg Solti
2012. Decca
Das habe ich oft gesungen! Wer das wohl ist… der Klang stammt aus den Achtzigerjahren, auch die klare Phrasierung, ohne großes Drumherum… sehr schöne Diminuendi: Toll gesungen! Ein Sänger, wohl Anfang Vierzig, noch in seiner Entwicklung – ich bin es nicht, denn ich war Zwanzig und habe damals auf der Straße gesungen! Und Fritz Wunderlich war tot … es wird doch nicht Gösta sein? Das gibt es doch nicht: Wow! Er wurde ja später ein solch großer Wagner-Sänger – das ist ja erstaunlich! Ich habe ihn Mitte der Achtziger in Wien an der Staatsoper erlebt, von einem Stehplatz aus. Tagsüber von fünf bis sechs Uhr stellte ich mich an den Graben im Zentrum Wiens, da wo der Julius Meinl ist, und sang alles Mögliche, ohne Begleitung. Bis zu 500 Schilling habe ich pro Tag verdient – nach Abzug von Stehkarte, Übernachtung und einem Hamburger blieb immer noch etwas übrig. Wenn ich das in Katowice gemacht hätte, hätten alle Leute nur geguckt – aber in Wien war die absolute Freiheit! 1984 hatten sich die Grenzen geöffnet, wir konnten überall hin: Was für ein Gefühl! Immer wenn ich dort vorbeikomme, habe ich einen Beutel mit Kleingeld dabei – für alle, die heute dort singen.
Wagner: Lohengrin, In fernem Land, unnahbar euren Schritten
Siegfried Jerusalem, Claudio Abbado
1994. Deutsche Grammophon
Sehr schön! So lyrisch … eine Aufnahme aus den Neunzigerjahren? Siegfried Jerusalem dürfte das sein – aber das ist die frühe Aufnahme. Ich habe die spätere Aufnahme mit Cheryl Studer auf meinem iPad: Hier, schauen Sie – ich stehe ja kurz davor, die Rolle zu singen. Doch habe ich auch anderes Repertoire auf meinem iPad: Interpretationen von Wunderlich und Pavarotti, aber auch Queen, Rihanna oder die James-Bond-Musik.
Massenet: Werther, Oui, ce qu’elle m’ordonne
Rolando Villazon, Antonio Pappano
2012. Deutsche Grammophon
Rolando natürlich! Mein Lieblingsmoment in der Oper … schwer zu beurteilen, ob er das vor oder nach der Stimmkrise ist: Ich finde, die Stimme hat gar nicht so sehr an Klang eingebüßt, es ist eher eine Angelegenheit des eigenen Vertrauens. Eben eine psychische Sache und nicht eine physiologische: Ein Skispringer, der fünfmal stürzt, wird beim sechsten Sprung nicht mehr so kräftig abspringen, weil er unbewusst Angst hat.
R. Strauss: Der Rosenkavalier, Di rigori armato il seno
Placido Domingo,
Leonard Bernstein
2014. Sony Classical
Ach ja, der Tenor, der Sänger! Manche bringen Ironie mit in die Rolle hinein, andere, wie Plácido, eben auch nicht. Jeder Tenor hat dieses italienische Volkslied, das gar nicht mal von Strauss selbst stammt, verbrochen. Ich habe es bei den Salzburger Festspielen gesungen – und das war sehr lustig: Da die Oper ja so viele Tenorpartien hat, hatte man uns alle in einer Künstlergarderobe versammelt. Fünf Tenöre waren wir, und alle hatten irgendwann mal diese Rolle gesungen. Rein gesanglich ist es eine der schwierigsten Rollen im Tenorrepertoire, die Rolle ist in die Szene involviert, aus dem Nichts muss man sofort da sein, das ist wirklich schwierig. Wenn man nervös oder nicht richtig eingesungen ist, dann wird es schwierig. Gnädig war Strauss nur gegenüber Sopranistinnen oder Mezzosopranen – nicht aber mit den Tenören.
Puccini: La Bohème, Vecchia zimarra
Enrico Caruso
2007. Enterprise
Hundert Jahre ist das her: Das Orchester klingt wie Blasmusik. Und ist das nicht toll: Caruso singt einfach die Bass-arie, obwohl er ein Tenor war. Trotz dieser Aufnahmetechnik haben wir kaum eine Vorstellung davon, wie unglaublich diese Stimme war: der Non-plusultra-Tenor! Caruso soll das hohe C nicht gehabt haben, wie Pavarotti sagt? Das stimmt und auch wieder nicht: Auf einer Aufnahme mit dem Faust hat er es gesungen – aber ich glaube, er hatte Schwierigkeiten damit. Doch das hohe C ist zweitrangig … Hohe Noten seien Geldnoten, sagt José Carreras? Vielleicht – doch mit Qualität hat das nichts zu tun, höchstens mit dem Ego eines Sängers. Auch ich singe es; aber man ist nicht deswegen minderwertig, wenn man es nicht kann. Eines muss man aber wissen: Man kann den ganzen Abend wie ein Gott singen, aber wenn man dann das hohe C nicht trifft, dann war alles umsonst. Deshalb muss man sich genau überlegen, ob man es macht.
Szymanowski: 3. Sinfonie, 3. Satz – Largo
Jon Garrison, City of Birmingham SO, Simon Rattle
2006. EMI
Also wer das jetzt ist, weiß ich nicht. Der Aussprache nach jedenfalls kein Pole: Polnisch ist keine einfache Sprache, Italienisch ist da einfacher zu singen, da die Sprache viele Vokale hat und die Vokale keine Umlaute, wie etwa im Französischen oder Deutschen. Ich mag die Sprachen sehr, ich mag es, Dialekte zu erkennen und die Färbungen – und ich singe oft polnisches Repertoire. Seit zwei Jahren habe ich die Doppelbürgerschaft, bin Schweizer und Pole; in Polen leben tue ich allerdings schon seit 24 Jahren nicht mehr: Ich habe dort zwar noch Familie, aber die politische Situation ist dort derzeit sehr schwierig.
Schubert: Erlkönig
Christoph Prégardien, Michael Gees
1996. EMI
Ich komme nicht darauf, ich habe eine Idee, aber der Sänger ist kein Deutscher – und dort singt ein Deutscher. Toller Pianist und toller Sänger: Der hat bestimmt bei Fischer-Dieskau studiert … ist das wirklich Prégardien? Ja, an den hatte ich gedacht! Aber der ist doch Franzose? Ich wusste nicht, dass er ein deutscher Sänger ist. Das ist opernhaftes Excitement! Und was für eine Wortverständlichkeit! Weil der Ton groß genug sein muss, um das Opernhaus zu füllen, geht dies oft auf Kosten der Verständlichkeit. Auf der Schubertiade habe ich das auch gesungen – mit Helmut Deutsch.
Lehár: Land des Lächelns, Dein ist mein ganzes Herz
Jonas Kaufmann
2014. Sony Classical
Das ist doch Jonas! Operette ist ein sehr schwieriges Repertoire. Entscheidend ist die Mischung aus Nonchalance, Eleganz und Distanz. Das ist sehr schwierig.
Bernstein: West Side Story, Maria
José Carreras (Tenor), Leonard Bernstein (Leitung)
1984. Deutsche Grammophon
Das habe ich als Student gehört … Der Unterschied zwischen Musical- und Opernsänger? Die Stimme des Musicalsängers ist „weiß“, unausgebildet, nicht geschult; sie hat keine Flexibilität und wenige dynamische Abstufungen. Was nicht heißt, dass ein Sting oder ein Freddy Mercury nicht tolle Stimmen haben: Aber wenn man sie neben Pavarotti stellt, dann hört man den gewaltigen Unterschied. Es ist ein bisschen wie bei Autos: Da gibt es die schlichte Karre – und dann gibt es das Auto mit dem Vierradantrieb, der großartigen Balance, der super Lenkung und den 500 PS.
Mozart: Così fan tutte, Un’aura amoroso
Vittorio Grigolo , Orchestra del Teatro Regio di Parma
2011. Sony Classical
Sehr schön gesungen! Das ist Vittorio, der mit dem Unberechenbarkeitsfaktor, weil er bekannt ist für seine Unpünktlichkeit – aber eine sehr schöne Stimme. Die Lösung für Persönlichkeiten seines Kalibers: Um eine gewisse Ordnung zu bekommen, muss man einen Komponisten nehmen, der Ordnung verlangt.