Was zeichnet für Sie ein besonders gutes Publikum aus?
Antje Weithaas: Ein gutes Publikum hört intensiv zu. Wenn es offen und neugierig ist und sich auch emotional auf die Musik einlassen kann, fühle ich mich am wohlsten. Der Applaus ist nicht das Entscheidende, denn er entsteht häufig aus einem Instinkt heraus: Wenn ein Stück laut und rhythmisch endet, zeigt sich die Begeisterung intensiver.
Gibt es verschiedene Arten hinsichtlich des Publikums?
Weithaas: In kleineren Sälen nehme ich die Hörerschaft mehr wahr und es kommt manchmal zu einem intensiven Austausch über Musik, auch nach dem Konzert. Wenn man in Japan zum Beispiel ein Kammerkonzert spielt, sitzt das Publikum mit der Partitur im Raum. Die Menschen kennen die Musik teilweise so gut, da kann man im Gespräch noch etwas über den Blickwinkel und die Hörweise von Menschen lernen. Auch in Deutschland gibt es diesen wunderbaren Kontakt bei kleineren Veranstaltern zu den Zuhörern, die ja selbst auch oft Musizierende sind. In einem großen Saal finde ich es immer faszinierend, wenn man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hört. Wenn so eine Spannung da ist, kommt man als Ausführende in einen musikalischen Rausch, in eine meditative Stimmungslage, die man gemeinsam mit dem Publikum erlebt.
Welche Rolle spielt das Publikum bei der Bewertung Ihres Spielerfolges?
Weithaas: Manchmal ist man überrascht von der Resonanz. Es kann also sein, dass das Publikum ein tolles Erlebnis hatte und man selbst geht von der Bühne und ist gar nicht richtig zufrieden. Ich erkläre mir das so, dass sich durch das negative Eigenempfinden eine Spannung aufbaut, die sich positiv mitteilt. Und manchmal, wenn man sich so richtig wohl fühlt, reagiert das Publikum eher mau. Jeder Mensch hört selbstverständlich anders, mit seinen eigenen Erfahrungen und Sensibilitäten. Entscheidend ist, dass etwas Unwiederholbares passiert, das ist ja auch das Tolle an Konzerten.
Das hat im coronabedingten Lockdown lange gefehlt.
Weithaas: Die Corona-Zeit hat uns allen gezeigt, wie wichtig das Publikum ist. Das können keine Konserve und kein Streaming ersetzen. Es war gut, dass das möglich war, aber Menschen im Raum erzeugen eine andere Aura als eine Kamera. Manche Kollegen fanden auch das toll, aber mir hat dabei etwas gefehlt.
Man merkt nun, dass sich die Säle nicht so selbstverständlich füllen, wie man sich erhofft hatte. Was braucht das Publikum jetzt, um ins Konzert zu strömen?
Weithaas: Das muss man differenziert betrachten. Die Zurückhaltung der Konzertbesucher ist meiner Erfahrung nach ein Phänomen der großen Städte. Ich glaube, dass Angst vor einer Ansteckung noch eine Rolle spielt. Man sollte darüber nachdenken, ob man hierzulande mal damit aufhören sollte, diese zu schüren. Trotzdem bin ich Optimist. Gerade in einer Zeit von großen Unsicherheiten in der Gesellschaft – sei es wegen Corona oder weitaus schlimmeren Dingen, wie ich meine – ist Kultur ein notwendiger Bestandteil, um zu sich zu finden.
Mein Problem ist, dass die Politik nicht immer versteht, wie viel Unterstützung die Kultur gerade braucht. Ohne Subventionen geht es nicht, sonst wird es kritisch. Deutschland hat sich die Kultur immer geleistet und sollte dies auch weiterhin tun. Wir enden hier sonst bei amerikanischen Verhältnissen, wo Sponsoren bestimmen, was gespielt wird, und wo sich nur noch die großen Städte Konzerte leisten, weil dort die spendablen Menschen leben. Ich würde mir wünschen, dass das auch die jüngere Generation der Politiker versteht. Aber auch die Veranstalter sollten jungen Künstlern eine Chance geben und nicht nur bekannte Namen einladen, weil sie hoffen, dass sich das besser verkauft.
Ein Appell.
Weithaas: Ja! Meine Befürchtung in der Corona-Zeit war, dass es nach der Öffnung des Kulturlebens erst mal darum gehen wird, die Säle zu füllen. Es sollte aber ein vielfältiges Angebot geben, das nicht nur aus Bombast besteht. Wir müssen immer auf das Publikum zugehen, so dass auch selten gespielte Musik keine Hürde in der Programmplanung darstellt.
Kann man ein Publikum erziehen?
Weithaas: Das ist das falsche Wort. Ich würde sagen, man kann die Menschen mitnehmen und die Ohren und Herzen öffnen. Man muss ja Musik nicht verstehen, aber für ungewohnte Klänge kann man im und ums Konzert herum ein emotionales Verständnis vermitteln.
Ärgern Sie sich auch manchmal über das Publikum?
Weithaas: Ja, aber nicht über das Publikum, sondern über vermeidbares Stören. In erster Linie sollte man bei sich selbst anfangen und sich fragen, ob es an einem selbst liegt, wenn das Publikum unruhig ist.
Worauf wollen Sie als Jurymitglied bei der Bewertung eines Publikums achten?
Weithaas: Ich bin sehr offen und neugierig auf die Verbindungen von Publikum und Haus oder Veranstalter. In Deutschland gibt es vor allem in kleineren Städten eine große Identifikation mit den Theatern. Oft fungieren sie als kultureller Treffpunkt der Stadt. Die langjährigen Abonnenten, die seit dreißig Jahren in jedes Konzert gehen und jeden Musiker ihres Orchesters kennen, finde ich rührend. Wenn ich mich in der zweiten Konzerthälfte nach meinem Auftritt manchmal auf einen freien Platz setze und mit meinen Nachbarn ins Gespräch komme, höre ich oft von solchen Zeugnissen familiärer Zugehörigkeit.
Können Sie im Publikum die Musik genießen oder fühlen Sie sich beruflich gefordert?
Weithaas: Ich kann nicht mehr unbefangen hören. Dennoch vergesse ich meine Suche nach Strukturen und Kritik, wenn etwas mit viel Lebendigkeit und Spannung vorgetragen wird. Unsere Sehnsucht nach Perfektion ist sehr wichtig. Am Ende geht es aber nicht darum, sondern ob ich auf meinem Platz eingefangen werde und es mich mit den Sinnen auf die Bühne zieht. Den Perspektivwechsel genieße ich daher sehr, eben auch, weil ich mich manchmal mit dem Publikum austauschen kann.
Was müsste ein Publikum tun, damit Sie bestechlich in Ihrer Entscheidung werden?
Weithaas: Ich bin wirklich nicht bestechlich. Natürlich trinke ich gerne Wein, aber auch eine Flasche des edelsten Tropfens würde meine Meinung nicht ändern. Ich bemühe mich um Objektivität, obwohl es sie bekanntlich nicht gibt. Und um Ehrlichkeit.