Robin Ticciati und das Deutsche Symphonie-Orchester harmonieren prächtig miteinander. Nach der Veröffentlichung der zweiten CD darf man sich nun auf die anstehenden Konzerte freuen – und auf ein weiteres neues Album, das bereits im März erscheint. Warum dem gebürtigen Londoner der Start so gut gelang, wird im Interview schnell klar: Der junge Lockenkopf, gerade mal 35 Jahre alt, schafft mit seiner einnehmenden Art sofort Nähe. Seine ruhige Stimme blendet das städtische Treiben rund um das Caféhaus im Prenzlauer Berg vollkommen aus.
Wie würden Sie Ihr Orchester beschreiben?
Robin Ticciati: Der Name hört sich erst einmal schwer und gesetzt an. Das Orchester selbst steckt aber voller feiner Nuancen, gleich einem Parfüm. Es ist intellektuell und emotional sehr frei. Im philosophischen Sinne würde ich sagen: Es ist sehr wach. Ganz allgemein denke ich, es ist nicht gut, zu sehr festgelegt zu sein.
Würden Sie sich selbst als neugierigen Menschen bezeichnen?
Ticciati: Ja! Und „suchend“, wie es ein schönes Wort aus der Romantik noch treffender beschreibt. Ich bin jetzt über ein Jahr Chefdirigent des DSO und kann sagen: Was meine Musiker antreibt, ist der unbedingte Wille, so nahe wie möglich an den Kern der Musik heranzukommen und die Entdeckungen auf dem Weg dorthin an das Publikum weiterzugeben. Wir versuchen immer, das Maximum aus uns herauszuholen, und um das zu erreichen, muss man neugierig sein. Wir stellen nicht nur uns, sondern auch unserem Publikum Fragen, so dass es nach dem Konzert nicht einfach nur gut unterhalten oder vergnügt nach Hause geht, sondern diese Fragen in sich trägt. Es sind existenzielle Fragen, wenn wir es „richtig“ gemacht haben. Ein Künstler ist verantwortlich dafür, sein Publikum zu bewegen.
Können Sie sich noch erinnern, was der erste Satz war, den Sie als Chefdirigent an das Orchester richteten?
Ticciati: Das erste, was ich nach der Unterzeichnung meines Chefdirigentenvertrags, aber noch vor meinem offiziellen Amtsantritt mit dem Orchester unternahm, war keine Probe oder ein Konzert – es war die Einspielung unserer ersten gemeinsamen CD. Wir mussten sofort Gold finden! Ich sagte also: „Vertraut mir einfach – und ich vertraue Euch.“ Das hat hervorragend funktioniert.
Debussy, Fauré, Ravel und Duparc: Für die beiden ersten CDs mit dem DSO haben Sie ausschließlich französische Komponisten aus der Zeit des Impressionismus ausgewählt. Warum dieser Fokus?
Ticciati: Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen sollte es ein Repertoire sein, das mir besonders am Herzen liegt. Ich wollte dem Orchester mit Werken begegnen, die sich in meiner Vorstellung bereits voll entfaltet haben. Also Werke, über die ich in ihrer Tiefe eine Menge mitzuteilen weiß. Ein weiterer Grund war, dass das Orchester aus seiner Historie heraus sehr flexibel ist und einen weiten Bogen spannen kann, von der Alten Musik über die Klassik bis zum Zeitgenössischen. Ich wollte, dass es mit mir zusammen einen gewissen Stil weiterentwickelt, damit wir uns gegenseitig besser kennenlernen. Außerdem dachte ich mir: Französisches Repertoire mit einem deutschen Orchester unter der Leitung eines italienisch-englischen Dirigenten – das ist doch eine wundervolle Sache! Wir sind als Künstler in der Welt zuhause. Hier sind wir und teilen unsere Musik. Wenn wir Debussy oder Ravel spielen, schauen wir uns die Pinselstriche und Details dieser Kompositionen an wie bei einem Gemälde von Seurat. Aus der Nähe betrachtet sind es lediglich viele kleine Punkte. Aus der Ferne setzt sich für den Betrachter dann aber plötzlich das ganze Bild und seine Bedeutung zusammen. Als Musiker brauchst du Präzision zum Erkennen dieser Punkte, absolute Klarheit, um dann Atem, Freiheit und Raum daraus sprechen zu lassen. Das wollte ich mit meinem Orchester entwickeln.
„Aimer et mourir“ heißt Ihre letzte CD mit dem DSO. Was ist musikalisch aufregender: Liebe oder Tod?
Ticciati: Oh wow, was für eine Frage! Es ist eine Frage, die sich zum Beispiel im „Tristan“ wiederfindet: Ist die ultimative Liebe nur im Tod möglich? Oder wie Berlioz es ausdrücken würde: Es sind die beiden „Flügel der Seele“, Liebe und Musik. Ich habe leider keine Antwort, die mit einer vergleichbaren Bedeutungsrelevanz aufwarten kann (lacht). Man kann die Frage auch gar nicht pauschal beantworten. Komponisten haben sich den großen Themen Liebe und Tod auf ganz verschiedene Weise genähert. In „Pelléas et Mélisande“ greift Debussy die Idee aus dem „Tristan“ auf. Wenn Pelléas, kurz bevor er von seinem Bruder erschlagen wird, singt: „Oh, oh! Alle Sterne fallen herab!“, und Mélisande ihm antwortet: „Auf mich auch! Auf mich auch!“, dann ist das ein musikalischer Liebesakt im Tod.
Sie sind seit über einem Jahr Chefdirigent des DSO. Was war die größte Überraschung in dieser Zeit?
Ticciati: (denkt lange nach) Die Schwierigkeit bei dieser Frage liegt in dem Wort „Überraschung“ … Sagen wir lieber „Freude“. Und da ist eine Antwort ganz klar: Wie sehr ich mich sofort zu Hause fühlte, als ich in der Philharmonie dirigierte. In einem Haus mit solch einer Geschichte. Es ist ein natürliches Gefühl, dazu sehr aufregend, mit meinem Orchester in der Philharmonie zu spielen. Das ging ganz schnell und war sofort intensiv. Es war wie Atmen.
Sie studierten Violine, Klavier und Schlagzeug. Wie wirkt sich dieser Hintergrund auf die Auswahl der Werke aus, die Sie dirigieren?
Ticciati: Auf die spezielle Auswahl hat es heute keine Auswirkungen mehr. Aber es beeinflusst mich in meiner Tätigkeit als Dirigent zu wissen, wie es klingt, wie es sich anfühlt, wenn die Saite durch den Bogen oder durch die Taste am Klavier in Schwingung versetzt wird. Man kann sie anschlagen, berühren, drüberhuschen, streicheln. Dirigieren ist dagegen etwas Abstraktes. Schauen sie mal (bewegt die Hände wie beim Dirigieren). Und was hören Sie? Nichts! Ich brauche ein Orchester. Ein Instrument zu spielen, ist nicht abstrakt, sondern eine sehr physische Sache. Als Perkussionist machst du aber nicht nur diese Erfahrung. Du sitzt ja ganz hinten und siehst, was um dich herum und im Orchester vor dir passiert. Das hat mich fasziniert.
Wann entschieden Sie sich, Dirigent zu werden?
Ticciati: Im Alter von 13 Jahren. Ich spielte im National Youth Orchestra of Great Britain, als der Dirigent, Sir Colin Davis, aufstand, die Arme weit ausbreitete und euphorisch zu einem der Klarinettisten blickte. Er sagte: „Ich hoffe, Sie genießen die Reise!“ Das war so spirituell, als ob wir nun aufbrechen würden, um den Heiligen Gral zu finden. Mir war sofort klar: Das will ich machen. Ich fühlte das. Ich wollte dieses große Meer vor mir haben, in die Wogen der Musik eintauchen. Aber aus umgekehrter Perspektive: nicht hinten sitzend als Perkussionist, sondern von vorne. Damals liebte ich es schon, mich zur Musik zu bewegen, aber ich wusste noch nichts über Interpretation.
Tanzen Sie gerne?
Ticciati: Nein, überhaupt nicht. Ich habe mich oft gefragt, warum das so ist. Aber Dirigieren hat etwas Kontrolliertes, fast Skulpturales. Jede Millisekunde der Bewegung besitzt eine Bedeutung. Wenn es eine Formel für den Tanz gibt, etwas, das ich studieren kann, also zum Beispiel die Tanzschritte beim Samba oder beim Walzer, dann könnte ich es vielleicht lieben lernen. Aber ich habe es bislang noch nicht ausprobiert. Auf dem Podium ist mein Körper mein Instrument, ich bewege mich auf engstem Raum. Das funktioniert wunderbar. Und eins ist klar: Je älter man als Dirigent wird, desto mehr gilt die Erkenntnis: „Weniger ist mehr“. Jeder muss da durch. Es ist ein Prozess der physischen Verfeinerung. Man muss es konstant analysieren und seine Schlüsse daraus ziehen.
Treiben Sie denn Sport?
Robin Ticciati: Ich gehe gerne zu Fuß. Überallhin. Manchmal mit Kopfhörern, da höre ich beispielsweise Debussy oder Brahms. Da bin ich ganz in meiner eigenen Welt. Oder ich bin offen und der Umgebung zugewandt, ohne Musik. Ich kann problemlos vom einen auf den anderen Moment umswitchen. Ich erlebe die Menschen, das bunte Leben, die Natur um mich herum – oder eben in mir.