Für sein erstes Album bei der Deutschen Grammophon spielte Seong-Jin Cho Chopins erstes Klavierkonzert ein. Fünf Alben später kehrt er wieder dorthin zurück: mit Chopins zweitem Klavierkonzert – selbes Orchester, selber Dirigent.
Fünf Jahre sind vergangen, seit Sie das erste Konzert von Chopin eingespielt haben. Hat sich Ihre Sichtweise auf den Komponisten und sein Werk verändert in dieser Zeit?
Seong-Jin Cho: Ich denke nicht, dass sich meine Sichtweise verändert hat: die Idee, die Emotionen des Komponisten zu verstehen, war und ist mein Ziel. Mein Stil aber könnte sich durchaus verändert haben. Beim Klavierspiel ist es ähnlich wie bei einer Gesangsstimme, die sich ja auch mit zunehmendem Alter verändert.
Wie nähern Sie sich den Kompositionen an?
Cho: Um beim ersten Klavierkonzert zu bleiben: Chopin schrieb es, als er noch jung war, zwanzig Jahre alt. Und er war in eine Frau verliebt. Dieses Konzert ist sehr romantisch, und auch wenn ich es schon sehr lange kenne, versuche ich, es frisch zu interpretieren, da Chopin eben so jung war. Es ist ein sehr persönliches Werk, anders als etwa seine vierte Ballade, die deutlich dramatischer und sehr tiefgründig ist.
Hilft es, wenn man als Interpret in etwa dasselbe Alter hat wie der Komponist, als er das Stück schrieb?
Cho: Auch wenn wir in derselben, oder genauer gesagt: in einer ähnlichen Lebensphase sind – ich bin jetzt 27 Jahre, er war damals 20 Jahre alt –, kann ich seine Musik nicht komplett verstehen: Er war ein unbestrittenes Genie, ich bin ein gewöhnlicher Pianist. Aber ich versuche mein Bestes.
Sie waren fünfzehn Jahre alt, als Sie zum ersten Mal das Konzert gespielt haben.
Cho: Und in den letzten zwölf Jahren haben sich mein musikalisches Denken und meine Interpretationsweise verändert. Als Jugendlicher war das Konzert für mich eine Herausforderung wegen der technischen Schwierigkeiten. Ich habe diese Herausforderung sehr genossen. Aber bei diesem Stück geht es nicht um Technik. Das habe ich erst später verstanden.
Haben Sie eine Ahnung, mit wie vielen Orchestern Sie das Werk schon gespielt haben?
Cho: Oh, nein (lacht)! Aber ich dürfte es über fünfzig, vielleicht sogar siebzig Mal gespielt haben, und das in der Tat mit sehr vielen verschiedenen Orchestern. Das f-Moll-Konzert hingegen ist noch relativ neu für mich, das habe ich erstmals 2017 gespielt.
Wie war es eigentlich, mit Dirigenten zu arbeiten, die deutlich älter sind als Sie und somit auch mehr Musik- und Lebenserfahrung haben? Als Solist agiert man ja doch in gewisser Hinsicht auf Augenhöhe.
Cho: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt Dirigenten, die kaum älter sind als ich und so reif und abgeklärt wirken wie ein Kollege in den Siebzigern. Andererseits kann ein siebzig- oder achtzigjähriger Dirigent eine unglaublich jugendliche Aura ausstrahlen. Das Alter sagt für mich gar nicht so viel über die musikalische Persönlichkeit aus.
Wie fühlt man sich, wenn man mit einem Dirigenten zusammenarbeitet, den man noch als kleiner Klavierschüler bewundert hat – spüren Sie da Nervosität?
Cho: Nein, ich fühle mich einfach nur glücklich! Ob Mariss Jansons oder Sir Simon Rattle oder Valery Gergiev, um nur ein paar „Helden“ meiner Jugend zu nennen: Furcht oder Nervosität habe ich nie gespürt. Es war pures Glück. Und ich konnte so viel von ihnen lernen!
Für die Einspielung des zweiten Klavierkonzerts haben Sie wieder mit dem London Symphony Orchestra und Gianandrea Noseda zusammengearbeitet.
Cho: Auch das war ein großes Glück, dass ich den Zyklus mit demselben Orchester und demselben Dirigenten beenden konnte. Gianandrea Noseda ist auch ein großartiger Operndirigent, was zu diesem zweiten Klavierkonzert sehr gut gepasst hat, da es sehr nah an der Oper ist.
Mögen Sie denn Oper?
Cho: Sehr, aber ich bin wirklich kein Experte. Das bin ich eher noch im sinfonischen Bereich, ich besuche sehr viele Orchesterkonzerte – vor allem deshalb, weil ich dann Musik von Komponisten erleben kann, die mir als Pianisten weitgehend verwehrt bleiben, Bruckner etwa, oder Mahler.
Und wie sieht’s mit anderen Pianisten aus? Hören Sie sich durch die Kataloge, wenn Sie ein Stück erarbeiten?
Cho: Zu Beginn meiner Arbeit nicht, da möchte ich nicht beeinflusst werden. Später schon.
Wie fängt denn Ihre Arbeit an, wenn Sie ein Stück einstudieren?
Cho: Das fängt mit viel Kopfarbeit an. Ich lese möglichst viel über die historischen und gesellschaftlichen Hintergründe der Musik und des Komponisten, über die Umstände, unter denen er komponierte. Ich habe da aber keine feste Methode. Auch die Noten sehe ich mir sehr gründlich an, analysiere sie, versuche die Bedeutung der Notation zu erfassen, überlege mir, welche Vorstellung der Komponist von Crescendo oder Decrescendo und so weiter hatte.
Suchen Sie sich Inspirationen aus anderen Kunstformen?
Cho: Vor allem aus der Malerei. Ich besuche liebend gerne Museen und Galerien, in dieser Hinsicht ist mein Wohnort Berlin ja paradiesisch.
Dort leben Sie seit vier Jahren, zuvor hatten Sie in Paris Ihren Wohnsitz. Gerade eben sind Sie aber von einer Tournee durch Südkorea, Ihrer Heimat, zurückgekehrt. Wo fühlen Sie sich denn zu Hause? Oder sehen Sie sich eher als „Wanderer“, wie Sie eines Ihrer Alben betitelt haben?
Cho: Korea ist einzigartig, sehr schnell, sehr kreativ, sehr modern, auch moderner als die meisten europäischen Länder. Korea hat eine sehr gemischte Kultur, die Menschen sind sehr leidenschaftlich, sind offen für Neues. Wenn ich in Korea bin, fühle ich mich auch wie ein Koreaner. Andererseits lebe auch schon recht lange in Europa, also denke ich mir oft in Korea: Meine Güte, ist das hier alles hektisch und laut! Aber als Europäer fühle ich mich deshalb nicht. Ich denke, „Wanderer“ trifft die Sache sehr gut.
In den letzten fünf Jahren haben Sie sechs Alben eingespielt …
Cho: … waren es wirklich so viele? Moment mal: Mozart, Debussy, Goerne (zählt weiter) … Tatsache!
Woher nehmen Sie denn die Energie?
Cho: Ich bin eben noch jung (lacht).
Wie war es eigentlich, mal nicht als Solokünstler, sondern als Liedbegleiter zu arbeiten? Sie haben in der Aufzählung der Alben ja eben Ihre Zusammenarbeit mit Matthias Goerne erwähnt.
Cho: Es hat unglaublich viel Spaß gemacht, mal ein ganz neues Repertoire zu spielen – Wagner, Strauss, Pfitzner. Ich konnte dabei so viel über das Lied lernen.
Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Cho: In Paris habe ich ein Konzert von ihm besucht. Wir haben einen gemeinsamen Freund, der uns vorgestellt hat. Matthias, der auch ein großer Liebhaber von Klaviermusik ist, hat mich dann gleich auf mein Album von der Chopin-Competition angesprochen. Ein paar Wochen später hat er mich gefragt, ob ich denn an diesem, diesem und an diesem Tag Zeit hätte. Ich hatte Zeit, und so startete die Kollaboration. Er war sehr geduldig mit mir und hat mir in seiner höflichen und zuvorkommenden Art sehr viel erklärt, fast schon wie ein Lehrer. Man lernt eben nicht nur von Dirigenten (lacht).