Seit 2001 Jahren leitet Simon Halsey den Rundfunkchor Berlin. Und nicht nur drei Grammys in den letzten vier Jahren zeigen, wie erfolgreich diese Zusammenarbeit ist. Auch die zahlreichen Projekte des 1958 in London geborenen Dirigenten sprechen für sich: Ob im Leader-Chor oder in den Mitsingkonzerten, mit unbekanntem Repertoire oder in seiner Meisterklasse für junge Chordirigenten, Halsey will ein neues und größeres Publikum für die Chormusik gewinnen.
Herr Halsey, Ihr Kollege Simon Rattle charakterisiert Sie als einen, der „nicht wahrhaben will, dass IRGENDETWAS unmöglich sein könnte“. Stimmt das?
Wenn ich überzeugt bin, dass ein Projekt spannend für das Publikum ist und den Chor voranbringt, sage ich erst einmal ja, statt gleich einzuwenden: Oh, das klingt problematisch! Probleme kann man dann lösen, wenn sie auftreten. Sonst hätten wir uns an viele Projekte mit dem Rundfunkchor Berlin gar nicht erst herangetraut: John Taveners The Veil of the Templezum Beispiel. Ein Mammutwerk. Das Stück dauert acht Stunden, man braucht 200 Sänger, das ist unglaublich aufwändig. Aber es war ausverkauft, die Resonanz in der Öffentlichkeit enorm. Wenn jemand etwas Besonderes vorhat, kommt er zu uns – es hat sich herumgesprochen, dass wir neugierig und abenteuerlustig sind.
Wäre es nicht einfacher, normales Repertoire zu wählen?
80 Prozent unserer Arbeit besteht aus „normalem“ Repertoire. aber normal heißt nicht Routine. Ein bekanntes Stück nur durchlaufen zu lassen, kommt überhaupt nicht in Frage. Gerade haben wir Beethovens C-Dur-Messe mit Harnoncourt und den Berliner Philharmonikern gemacht. Das Stück ist nicht schwer, ein Profichor kann es ohne weiteres in zwei Tagen schaffen. Aber wenn man aus einem Werk alles herausholen will – und das ist unser Anspruch –, muss man mehr investieren. Erst habe ich den Chor drei Tage lang intensiv vorbereitet. Dann hat Harnoncourt einen Tag lang mit dem Chor allein gearbeitet, um Artikulation, Phrasierung, Dynamik und Darbietung seinen Vorstellungen entsprechend zu perfektionieren. Er hat soviel über Musik zu sagen, das wollten wir voll ausschöpfen! In den drei Probentagen mit dem Orchester ging es dann um Zusammenklang, Balance und Ensemblegefühl. Wenn der Dirigent übernimmt, sind alle Grundfragen gelöst, und wir haben die Freiheit und das Privileg, auf allerhöchstem Niveau musikalisch zu arbeiten.
Wieviel Arbeit stecken Sie selbst denn in die Vorbereitung eines Werks?
Das ist ganz unterschiedlich. Für Schönbergs Moses und Aron, mein erstes Stück mit dem Rundfunkchor Berlin, habe ich fast ein ganzes Jahr lang vier Stunden am Tag gearbeitet. Für Beethovens Messe natürlich weniger. Aber egal wie oft ich ein Werk schon gemacht habe: In einer Partitur gibt es immer noch etwas zu entdecken. Morgen habe ich einen Termin mit Barenboim für Elgars Dream of Gerontius. In dieses Gespräch gehe ich mit einer vollständig vorbereiteten Partitur. Ich habe das Stück schon oft gemacht, mit der englischen Tradition im Hintergrund. Ich bringe Vorschläge mit, aber vor allem freue ich mich auf seinen völlig unvoreingenommenen Blick! Wenn wir uns abgesprochen haben, erstelle ich eine ausgabe für den Chor mit allen wichtigen Eintragungen, das spart Zeit in den Proben und hilft Missverständnisse zu vermeiden. Schon im Dezember werden wir damit beginnen, jeden Tag fünf Minuten lang am Text zu arbeiten. Dann können wir uns im Januar ganz auf die Musik konzentrieren.
Sie haben die Arbeit, ein anderer dirigiert dann. Stört Sie das nicht?
Nein. Ich dirigiere oft genug selbst, dieses Jahr zum Beispiel habe ich acht Konzerte mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, ich dirigiere viele a-cappella-Projekte. Außerdem ist es ein Irrtum zu denken, eine Einstudierung sei eine reine Assistenzaufgabe. Von Reihe elf aus zuzuhören und am Ende der Probe einmal nach vorne zu kommen und zu sagen „die Posaune ist zu laut“ – das ist natürlich nicht befriedigend. Es kann aber viel mehr sein als das. Wenn zum Beispiel Gergiev zu den Proben kommt, stehe ich mit ihm vorn am Pult. Gergiev dirigiert und berät sich mit mir. Bei Rattle bin ich immer mit auf der Bühne, mache Vorschläge. Ich bereite den Chor darauf vor, was im Orchester geschieht. Aber es kommt immer häufiger vor, dass ein Dirigent den Chor etwas a cappella vorsingen lässt, damit das Orchester Phrasierung und Klangfarbe anpassen kann. Ich selbst muss immer so umfassend vorbereitet sein, dass ich auch selbst dirigieren könnte: Es kann durchaus passieren, dass ich eine Probe oder auch ein Konzert übernehme, wenn der Dirigent krank wird.
Die 40stimmige Motette Spem in alium, die kürzlich in der Philharmonie auf dem Programm stand, haben doch sicher Sie einstudiert, nicht Simon Rattle.
Oh, selbstverständlich habe ich den Chor vorher fünf Tag lang vorbereitet. Aber für unsere Sänger ist es natürlich toll, das Stück drei Mal mit Rattle in der ausverkauften Philharmonie zu machen. Aus demselben Grund, aus dem es für die Philharmoniker toll ist, unter Thielemann, Barenboim oder Harnoncourt zu spielen! Weil sie durch ihre Eigenschaften Simons fantastische Arbeit noch ergänzen. Und der Rundfunkchor arbeitet nicht nur mit vielen großen Orchesterdirigenten zusammen, sondern auch mit Spezialisten für Chormusik wie Marcus Creed, Michael Gläser oder Stefan Parkman, die wieder andere Stärken haben als ich. Wir brauchen diese Einflüsse, sie bringen uns weiter.
Was bringt denn ein Simon Rattle ein, wenn er so ein Stück von Ihnen übernimmt?
Er sieht die Musik anders. Ich bin mit Tallis groß geworden, habe die Motette hundert Mal gemacht, oft mit Sängern, die sie auch schon hundert Mal gesungen haben. Normalerweise sucht man ja in diesem Stück eine Art New-Age-Erfahrung, in der Tradition der Tallis Scholars singt man es relativ langsam, in Räumen mit fünf Sekunden Heiligenschein. Ich liebe das Stück so und habe es selbst auch vor ein paar Wochen im Radialsystem so dirigiert. In der Philharmonie ist die Akustik dagegen relativ trocken, da funktioniert das nicht. Simon hat das Stück viel schneller gemacht, die rhythmische Virtuosität herausgearbeitet: Eine ganz neue Erfahrung. Das ist für uns ein unglaublicher Gewinn.
Trotzdem stehen die Chöre meist im Schatten der Orchester.
Das war lange ein Problem. Die Leute sagten oft: „Ich war in der Philharmonie in der Missa Solemnis mit Haitink und den Berliner Philharmonikern.“ – „Und wer hat gesungen?“ – „Oh, ein Chor.“ – das hat sich geändert. Heute wird der besondere Klang des Rundfunkchores Berlin sehr deutlich wahrgenommen und geschätzt. Wir möchten ein Spitzenensemble für Berlin, Deutschland und die Chormusik weltweit sein. Bei uns fühlen sich alle Chormitglieder mitverantwortlich für das Niveau des Chores. Die Proben sind hervorragend vorbereitet. Alle sind hochmotiviert. Man darf sich nicht als einer aus einer großen Masse fühlen. Das ist auch das Geheimnis der Weltklasse-Orchester. Alle brennen für die Musik, auch die achtzehnte Geige lehnt sich nicht zurück. Das macht den Unterschied.
Dirigieren Sie nur Chormusik?
Ich arbeite viel und gern mit Orchestern. Aber ich bin in erster Linie Chordirigent, und normalerweise lernt mich ein Orchester mit einem Chorstück kennen. Manchmal erleben sie eine Überraschung: O my God, der ist ja besser als gedacht! Dann spielen sie gut und laden mich wieder ein. Bei Chormusik nehme ich gern an. Bei einer Brahms-Sinfonie nicht.
Warum?
Na ja, Barenboim und Thielemann können das besser. Ich liebe es, das Brahms-Requiem zu dirigieren aber eben keine Brahms-Sinfonie. Man muss ehrlich sein und sich auf seine Stärken konzentrieren. Letztes Jahr habe ich die Matthäuspassion mit dem WDR gemacht. Die Zusammenarbeit mit dem Orchester lief sehr gut, jetzt folgt Strawinskys Psalmensinfonie. Wenn das erste Mal gut lief, ist es besonders wichtig, dass das zweite Mal auch ein Erfolg wird. Aber ich will ein Ensemble nicht nur zwei Mal dirigieren, sondern eine echte Beziehung zu den Musikern entwickeln. Viele Kollegen sind eine Woche in Köln, die nächste in Singapur, Perth, London und leben so das ganze Jahr. Ich kenne hier in Berlin jeden Sänger, jede Sängerin. Ich weiß, wem es gerade gut geht, wer Probleme mit der Familie hat, wer gesundheitlich angeschlagen ist – ein solches Familiengefühl ist sehr wichtig für meine Arbeit. Es hilft mir zu wissen, was in einer Probe geht und was nicht. Man braucht ein Gespür für die Gruppe, das bekommt man nicht als Gastdirigent. Deshalb bin ich schon seit 30 Jahren in Birmingham Chordirektor und leite seit zehn Jahren den Rundfunkchor Berlin. Und deshalb liegt mir so viel an der Verbindung zu den Berliner Orchestern, mit denen wir regelmäßig zusammenarbeiten: den Philharmonikern, dem Rundfunk-Sinfonieorchester und dem deutschen Symphonieorchester.
Und die Arbeit bleibt trotzdem spannend?
Natürlich. Letzte Saison hat der Rundfunkchor sechs Mal Beethovens Neunte gesungen. Ist das langweilig? Nein. Denn wir haben sie mit Thielemann, Janowski, Jordan und Cambreling aufgeführt. Man versteht das Stück besser und besser. Auch wenn ich ein Stück oft einstudiert habe, bin ich vor jeder Probe nervös. Wenn ich gleich in die Philharmonie gehe, frage ich mich: Ist die Vorbereitung der Messe gut genug? Klingen wir gut genug? Wird die Zusammenarbeit mit Harnoncourt gut laufen? Natürlich ist die Arbeit langweilig, wenn der Dirigent oder das Orchester schlecht sind. Aber wir treten mit den besten Dirigenten und Orchestern der Welt auf. Wir haben so viele Angebote, dass wir uns aussuchen können, mit wem wir arbeiten wollen. Als die Anfrage für Elgars Dream of Gerontius mit Barenboim kam, war der Kalender schon voll, aber wir haben das Projekt noch untergebracht, um mit ihm singen zu können.
Gibt es für Sie überhaupt einen Tag ohne Musik?
Ja. Entweder ich arbeite, oder eben nicht. Wenn nicht, bin ich gerne mit meiner Familie zusammen. Heute, vor diesem Interview, waren wir im Museum, haben gut gegessen… an Musik habe ich überhaupt nicht gedacht.