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Interview Stanislav Kochanovsky

„Ein Konzert ist Balsam für die Seele“

Der neue Chef der NDR Radiophilharmonie Stanislav Kochanovsky betrachtet Musik als Medizin, die den Menschen auch ein Stück weit besser machen kann. 

vonJan-Hendrik Maier,

Zur Spielzeit 2024/2025 wird Stanislav Kochanovsky als Wunschkandidat des Orchesters Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie. Im Interview blickt der gebürtige Sankt Petersburger und neue Wahl-Hamburger auf die neue Aufgabe, erzählt mit Begeisterung von seinem Werdegang und verrät, wieso die Stadt an der Leine kein unbekannter Ort für ihn ist.

Die NDR Radiophilharmonie hat Sie nach nur einem Konzert zum Chefdirigenten gewählt. Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?

Stanislav Kochanovsky: Absolut! Es war ihrerseits eine mutige Entscheidung und für mich eine schöne Überraschung. In den letzten sieben Jahren habe ich auf das richtige Angebot für eine Chefposition gewartet; dass das aus Deutschland käme, dem wichtigsten Zentrum für klassische Musik, und noch dazu von einem der besten Radioorchester, damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe sofort Ja gesagt.

Die Augen seien Ihr wichtigstes Instrument, Hände und Gesten indes nur zweitrangig. Wie beschreiben Sie Ihre Aufgabe als Dirigent?

Kochanovsky: Ich sehe mich vor allem als Ansprechpartner für die Musikerinnen und Musiker, der ihnen Orientierung gibt, um auf der Bühne im besten Licht zu erscheinen. Das ist eine Aufgabe, die sich jeden Tag aufs Neue stellt.

Wie gehen Sie mit dem Druck um, wenn auf einmal hundert Augenpaare auf Sie blicken?

Kochanovsky: Das ist für mich wie wohl für jeden anderen Künstler auch eine Prüfung, die es ein Leben lang neu zu bestehen gilt. Ein Orchester kann allein an meiner Körpersprache beim Betreten der Bühne und wie ich „Guten Tag“ sage einschätzen, wen es vor sich hat. Die Musikerinnen und Musiker sind sehr, sehr aufmerksam. Das Wichtigste für mich ist dann die richtige Organisation der Proben, so dass ich sie nicht erschöpfe, aber zugleich bestmöglich auf das Konzert vorbereite. Dazu braucht es viele Jahre und hunderte Proben Erfahrung.

Wie stellen Sie sich immer wieder neu auf ein Orchester ein?

Kochanovsky: Ob ich das Cleveland Or­chestra oder irgendwo in der Provinz dirigiere, ich versuche immer ich selbst zu sein und schnell abzuschätzen, welche Schwerpunkte wir gemeinsam umsetzen können. Wenn ich eine Sinfonie leite, die sie schon hundertmal gespielt haben, ist die Bereitschaft zur Veränderung womöglich nicht so groß. Ein sehr gutes Orchester aber, und die NDR Radiophilharmonie ist ein solches, findet Gefallen daran, Neues auszuprobieren, selbst wenn die Musiker das Stück im Schlaf beherrschen.

Mit seinen enormen und breitgefächerten Repertoire-Kenntnissen, das auch tief in die Opern- und Ballettliteratur hineinreichen, ist Stanislav Kochanovsky prädestiniert für ein vielseitige Rundfunkorchester wie jenes des Norddeutschen Rundfunks.
Mit seinen enormen und breitgefächerten Repertoire-Kenntnissen, das auch tief in die Opern- und Ballettliteratur hineinreichen, ist Stanislav Kochanovsky prädestiniert für ein vielseitige Rundfunkorchester wie jenes des Norddeutschen Rundfunks.

Stimmt es, dass Ihnen Ihr Großvater statt Märchen Opernlibretti vorgelesen hat?

Kochanovsky: Ja! Ich stamme aus keiner musikalischen Familie, aber mein Großvater hat die Klassik geliebt, Klavier gespielt und bei vielen Gelegenheiten Schallplatten mit Opern aufgelegt. Ich bin jedoch der Einzige, auf den diese Liebe übergesprungen ist, vielleicht auch, weil ich früher singen als sprechen konnte. Meine Oma hat im Radio dann von einem Vorsingen bei der Glinka-Kapelle erfahren und mich angemeldet. Das war der wichtigste Impuls in meinem Leben. Alles, was ich musikalisch erreicht habe, verdanke ich der intensiven Ausbildung dort.

Was hat den Ausschlag für das Dirigieren gegeben?

Mit zwölf oder dreizehn wurde ich für die Rolle eines Knaben in der „Zauberflöte“ ausgewählt. Als ich nach langen Proben am Klavier zum ersten Mal die Bühne im Mariinsky-Thea­ter betrat, den Dirigenten mit seinem Zauberstab im Orchestergraben sah und erlebte, wie er dieses komplexe Gebilde namens Oper organisiert, war es um mich geschehen. Das wollte ich auch machen! Man ist als Dirigent immer auf der Suche nach Kompromissen, muss auf die Bedürfnisse aller Beteiligten eingehen und zugleich die eigene Vorstellung von der Musik vermitteln.

Mit Mitte zwanzig hatten Sie dann erstmals eine Chefposition inne.

Kochanovsky: Genau, beim Safonov Philharmonic Orchestra in Kislowodsk, dem russischen Baden-Baden. Das ist eine veritable Institution, schon Rachmaninow und Prokofjew haben mit dem Ensemble gearbeitet. In meinen fünf Jahren dort habe ich mehr als sechzehn verschiedene Programme pro Saison dirigiert und so das sinfonische Repertoire in mich aufgenommen. Seitdem fühle ich mich in beiden Welten zu Hause: Oper und Konzert.

Sie sind auch ausgebildeter Organist. Vermissen Sie das Instrument manchmal?

Kochanovsky: Ich habe wundervolle Erinnerungen an meine Zeit als Kantor an der Sankt-Petri-Kirche in St. Petersburg. Im Gegensatz zur Konservatoriumsklasse, wo ich nur zweimal pro Woche Orgel spielen durfte, hatte ich dort Tag und Nacht Zugang zum Instrument. Wir waren sogar mit einer kleinen Delegation zu Gast beim Kirchentag in Hannover. Unglaublich, dass ich hier nun zwanzig Jahre später als Chefdirigent Dvořáks „Stabat Mater“ leiten werde! Aber eines Tages musste ich mich für eine Sache entscheiden, und das ist das Dirigieren.

Mit seinem neuen Orchester bringt Stanislav Kochanovsky einige selten gehörte Werke zur Aufführung
Mit seinem neuen Orchester bringt Stanislav Kochanovsky einige selten gehörte Werke zur Aufführung

Nächstes Jahr dirigieren Sie in Hannover Schostakowitschs „Leningrader“ Sinfonie. Welche Beziehung haben Sie zu ihr?

Kochanovsky: Zunächst wollen wir damit das Ende des Zweiten Weltkriegs vor achtzig Jahren feiern. Leider erleben wir jetzt wieder eine Kriegssituation. Deshalb ist es um so wichtiger, diese Musik als Erinnerung an das Geschehene zu spielen. Als in St. Petersburg Geborener fühle ich mich diesem ikonischen Werk innig verbunden. Meine Großmutter hat die neunhundert Tage andauernde Belagerung in Teilen miterlebt. Die dramatischen Geschichten, die mit der Entstehung dieser Sinfonie einhergehen, sind mir sehr präsent. Es schmerzt mich, dass dieses Werk, wie aber auch Musik im Allgemeinen, für Propagandazwecke missbraucht wird. Jeder Einzelne sollte hier mit einem ganz feinen Filter hinhören.

Musik sei die beste Medizin, sagten Sie kürzlich in einer Konzerteinführung.

Kochanovsky: Davon bin ich zutiefst überzeugt. In unserem Alltag prasseln so viele Dinge auf uns ein, wir werden jeden Tag mit schlimmen Nachrichten konfrontiert, das geht nicht spurlos an uns vorüber. Ein Konzert wirkt dabei wie Balsam für die Seele und macht uns alle ein bisschen besser als zuvor.

Welche weiteren Projekte wollen Sie mit der NDR Radiophilharmonie angehen?

Kochanovsky: Zunächst einmal stimmt die Chemie mit dem Orchester! Ich spüre den Wunsch der Musikerinnen und Musiker, noch besser zu werden und neue Sachen auszuprobieren. Nur ein paar Beispiele: Mit Nikolai Lugansky machen wir Nikolai Medtners äußerst selten zu hörendes drittes Klavierkonzert, und dann ist da noch Rimski-Korsakows 180. Geburtstag. Die Suite aus seiner Oper „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch“, das ist quasi eine russische Variante von Wagners „Parsifal“, wurde noch nie in Hannover gespielt. Darauf freue ich mich.

Ein Blick in Ihr Instagram-Profil legt nahe, dass Sie sich jenseits der Musik für Geschichte und Architektur interessieren.

Kochanovsky: Ich nehme gerne die Atmosphäre einer Stadt wahr, schlendere durch die Straßen und besuche, wenn möglich, die Kunstmuseen. Meine zweite Leidenschaft sind Pferde. Als Teenager bin ich mehrmals in der Woche im Stall gewesen und habe sogar an Amateurturnieren teilgenommen. Sofern es meine Zeit zulässt, möchte ich in Hamburg wieder mit dem Reiten anfangen.

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