Im Mai leitete Stefan Blunier bereits die Premiere von Poulencs Dialoge der Karmeliterinnen, nun dirigiert er die Neuproduktion der Carmen an der Komischen Oper. Der gebürtige Berner studierte neben Dirigieren auch Klavier, Horn und Komposition, trat als Pianist in Erscheinung und gründete als Student sein eigenes „Ensemble für Neue Musik Essen“. Nach Kapellmeister- und GMD-Stationen in Mainz, Augsburg, Mannheim und Darmstadt ist der 47jährige seit Anfang 2009 Generalmusikdirektor der Bundesstadt Bonn und damit gleichzeitig Chefdirigent des Beethovenorchesters und der Bonner Oper.
Herr Blunier, mögen Sie wirklich Heavy Metal?
Heavy Metal, Rammstein, Tokio Hotel – das hat was Dunkel-Archaisches, so eine ganz eigene Kraft und ist manchmal harmonisch hochinteressant. Und alles steht in Moll. Was die für ein Timing haben, wie sie die Bögen spannen und die Höhepunkte vorbereiten – das ist hochsubtil und nicht nur bloßes „Haudrauf“. Ich mag ja Strauss, Pfitzner, Schreker sehr; vielleicht gibt’s da in punkto Abgründe eine Verbindung.
Wie passt das zur Carmen?
Das ist natürlich nahezu das Konträre: eine wunderbar leichte, fragile und inspirierte Partitur, die leider allzu oft zu teutonisch interpretiert wird. Man muss die Transparenz, die lichte Glut und die Delikatesse herausarbeiten. Ich bin sehr wandlungsfähig. Ich mache viel zeitgenössisches, auch gerne Operetten und Barockoper – wenn ich mich auf eines konzentrieren müsste, dann wäre es Rameau, mit Darmsaiten und Barockbögen. Es gibt aber auch Sachen, die ich überhaupt nicht mag: Donizetti, Bellini, auch Verdi mache ich kaum noch, Puccini und andere Veristen hingegen so oft als möglich.
Das ist das Privileg eines Opernchefs – Sie suchen sich die Schmankerl aus und überlassen den Rest Ihren Kollegen.
Natürlich muss man auch auf die Kasse gucken. Aber selbst Irrelohe von Schreker war bei uns in Bonn ein paar Mal ausverkauft. Die Leute sollen Neues kennenlernen. In der Sinfonik kann man die Leute einfacher zu ihrem Glück zwingen, indem man Blockbuster drumherum baut – das muss natürlich dramaturgisch vernetzt sein, aber da fällt einem ja meist etwas ein.
In Berlin hat man Irrelohe leider seit Jahrzehnten nicht mehr zu sehen bekommen.
Ich finde, wenn man sich an einer Elektra und einer Salome erfreut, muss man auch Schreker spielen. Irrelohe ist ein wahnwitziges Werk. Wenn man es das erste Mal hört, wird man ein bisschen überrollt. Aber wenn man sich damit beschäftigt, entwickelt es ein Suchtpotenzial. Das macht Spaß zu dirigieren, da kann man wühlen und suhlen und rauskitzeln und abdämpfen – und alle spielen es gern. Im Orchester waren sie erst skeptisch, aber am Schluss hatten sie leuchtende Augen. Es ist ein Riesenapparat – elf Schlagzeuger, Cembalo, drei Mandolinen, zwei Gitarren, da wurde der Orchestergraben fast zu eng. Nur das Bühnenorchester haben wir auf Band aufgenommen.
Wie schaffen Sie es, dass Band und Live-Musik so synchron laufen?
Ich habe Tage damit verbracht, Metronomzahlen festzulegen. Es klappte anfänglich nicht immer lupenrein, aber das ist auch eine Übungssache. Ich habe in meinen Anfängen viel Ballett gemacht. Wenn man da das Tempo nicht hundertprozentig trifft, kriegt man mächtig Ärger mit den Tänzern.
Sie haben ja nicht nur ein absolutes Tempogefühl, sondern auch das absolute Gehör.
Ich leide manchmal sehr darunter. Gerade in der Neuen Musik, wenn man hören muss, wie vieles da nicht stimmt. Das stört mich immens. Aber es ist ein Vorteil, weil man viel schneller lernt. Ich gucke mir eine Partitur an, und sofern ich sie intellektuell verarbeiten kann, höre ich die Musik dann auch. Ich muss nicht ans Klavier gehen und mir die Akkorde zusammensuchen. Bis zur mittleren Romantik kann ich Musik lesen wie einen Groschenroman, mit Klangfarben und Harmonien. Frustrationen kriege ich dafür, wenn ich Leute wie Miguel Gómez-Martínez sehe, der mit dem Orchester auswendig probt. Er hat mir gesagt: „Machen Sie sich nichts draus, wenn ich das üben müsste, würde ich es nicht tun.“ Das ist furchtbar: Er blättert eine Partitur durch, klappt sie zu und stellt sich vors Orchester.
Wie muss man sich das absolute Gehör vorstellen?
Das ist ein Gedächtnisphänomen. Ich bin aufs Klavier geeicht. Ich merke, dass ich Holzbläser kritisiere, wenn sie die Terz zu tief nehmen. Ich fand es wunderbar, als ich mal das NDR Sinfonieorchester zu Christoph Eschenbachs Zeiten dirigiert habe, der hatte die Musiker auf sein Klavierempfinden getrimmt. Wenn ein Geiger Chefdirigent ist, habe ich wesentlich mehr Mühe mit der nichttemperierten Stimmung.
Und wie ist es bei Alter Musik?
Da denke ich transponierend. Selbst wenn wir zu Weihnachten in der Familie etwas vom Blatt singen und ich C-Dur lese, aber jemand stimmt ein A an, muss ich dauernd transponieren. Was ich lese, muss ich auch hören. Das ist nur bei transponierenden Instrumenten anders.
Sie sind inzwischen Stammgast an der Komischen Oper. Warum kommen Sie immer wieder gern?
Ich mag das Haus und das Orchester, wir arbeiten gern zusammen. Ich finde die Regieansätze hochinteressant, ich mag das Risiko, das man hier eingeht – weil es auch das Publikum dafür gibt. Ich hatte als Regisseure oft etwas ältere, sehr saubere Handwerker und sehr viele, denen eine schöne Ästhetik reicht. Ich sehne mich nach einer inhaltlichen Herausforderung und nach einem Dialog – den hat man hier am Haus.
Und warum bleiben Sie der „Provinz“ Bonn treu?
Es ist schön, etwas zu prägen. Ich bin Chefdirigent des Beethoven-Orchesters und musikalischer Leiter der Oper – das sind zwei getrennte Institutionen. Die Oper kauft das Orchester ein, eigentlich sind wir nahezu ein Konzertorchester. Wir machen diese Saison 26 verschiedene Sinfonieprogramme, gehen auf Tourneen, nehmen bis zu fünf CDs pro Jahr auf. Ich könnte 160 Mann auf die Bühne bringen, dagegen sind die Berliner Opernhäuser provinziell.
Sie haben in Bonn einige Innovationen eingeführt. Zum Beispiel machen Sie selbst die Konzerteinführungen und geben nach jedem Konzert eine Zugabe.
Nicht bei Bruckner 8 oder einer Messe. Aber sonst schon. Nach Holsts Planeten habe ich Giacinto Scelsi gemacht, nach Beethoven letztens einen Zapfenstreich und auch schon mal die Pavane von Fauré und andere Petitessen. Das lieben die Leute. Wegen der Konzerteinführungen habe ich mich schon manchmal selber verflucht. Ich kann mich nicht einfach vors Bildungsbürgertum stellen und denen frei Schnauze was erzählen, darauf muss ich mich schon intensiv vorbereiten. Ich gebe mir ja immer so unangenehm anspruchsvolle Themen vor wie: Wieviel Idylle verträgt der moderne Mensch heutzutage? (zu Beethovens Pastorale) oder: Das Phänomen der Synästhesie (bei Skrjabin). Da muss man aufpassen, dass man sich vor den Medizinern und Psychologen im Publikum nicht blamiert.
Und das können Sie eine Stunde vorm Konzert?
Es stresst mich schon. Aber ich kann jetzt nicht aufhören, und es macht auch Spaß. Das ist einfach Publikumsbindung. Mein erstes Karnevalskonzert habe ich kostümiert dirigiert – Bonn ist halt eine Karnevalshochburg –, und plötzlich war ich ein Lokalheld. Wir sind auch das einzige Orchester in Nordrhein-Westfalen, das einen hauptberuflichen Konzertpädagogen hat, der viele Programme für alle Altersstufen macht, da haben wir einen Wahnsinns-Zulauf.
Sie sind den klassischen Kapellmeisterweg durch die kleinen Häuser gegangen – eine gute Entscheidung?
Für mich ja, ich habe die Operettendirigate gebraucht, wo man auch mal Fehler machen darf. Ich weiß jetzt, was ich kann, denn ich hatte die Möglichkeit, mich nicht im direkten Fokus auszuprobieren, viele Erfahrungen zu sammeln und alle Abteilungen des Hauses von der Pike auf kennenzulernen. Nun bin ich in der Lage, ein Haus wie Bonn so zu leiten, dass es rund läuft.
Was denken Sie, wenn Sie plötzlich all die Jungstars bei den großen Orchestern sehen?
Es gibt zu viele Shooting-Stars. Dudamel, Nelsons und einige weitere sind sicherlich über alles erhaben. Wenn ich sehe, wie Dudamel mit Jetlag und nur einer Probe auswendig die Berliner Philharmoniker beim Neujahrskonzert dirigiert, muss ich zugestehen: Das sind Ausnahmeerscheinungen, auf die blickt man neidlos. Was mich stört, sind diese immer aufs Neue erscheinenden 20- bis 28jährigen, die aus dem Nichts heraus plötzlich an wahnwitzig guten Stationen dirigieren. Da nervt es, wenn man kontinuierlich und seriös seine Karrierebahnen beschreitet und sieht, wie die Verkaufsstrategie der nicht immer hochgradig Begabten bei sehr vielen Orchestermanagern und Veranstaltern Früchte trägt. Für mich bedeutet Dirigieren auch Entwicklung und Reifung – es können doch nicht urplötzlich Horden von Gottesgesandten da sein?! Aber dieser Jugendlichkeitswahn scheint ja heutzutage ein grundlegendes Phänomen in der gesamten Klassikbranche zu sein.
Sie sind mit Mitte 40 ja eigentlich auch noch ein junger Dirigent.
Genau, wenn ich gesund bleibe, kann ich noch 40 Jahre dirigieren, deshalb bin ich auch gelassen. Wer mit 30 alle Orchester dirigiert hat – woher kriegt der noch den Kick für die nächsten 50 Jahre? Ich kann noch darauf hinarbeiten, irgendwann die Wiener Staatsoper zu dirigieren. Aber am wichtigsten ist mir, dass die Arbeit Früchte bringt und Spaß macht. Es gibt Orchester, die können eine massive Arroganz ausstrahlen. Ich habe lieber heitere, neugierige und offene Gesichter vor mir. Wenn eine Zusammenarbeit über eine längere Zeit funktioniert wie an der Komischen Oper, ist es schön.