Der Empfang könnte freundlicher nicht sein. Während sich draußen ein nasskalter Sturm zusammenbraut, empfängt Tamara Stefanovich den Autor in ihrer hellen Altbauwohnung in Berlin-Schöneberg. Eine Serie abstrakter Gemälde des Berliner Malers und Bildhauers Alexander Polzin schmückt die hohen Wände. Mit ihren kräftigen Farbschichten strahlen sie gleichzeitig Energie und Erdigkeit aus.
Was sind für Sie die wichtigsten Kriterien, wenn Sie ein Konzertprogramm zusammenstellen?
Tamara Stefanovich: Früher habe ich meine Programme strikt getrennt nach Neuer Musik und dem klassischen Repertoire. Davon bin ich aber abgekommen. Heute stelle ich Familienzugehörigkeiten heraus. Jeder Komponist hat Wurzeln und stellt Bezüge zur Vergangenheit her, weist aber gleichzeitig in die Zukunft, wenn er wirklich gut ist. Ligeti und Beethoven haben zum Beispiel ähnliche Denkweisen, sie setzen ähnliche Prioritäten in ihrer Musik. Beide arbeiten mit kleinen Motiven und bauen daraus große Landschaften.
Oder Bach und Bartók, Eötvös oder Kurtág. Sie alle können einfache Stücke schreiben und zeigen damit offen und nachvollziehbar, wie der kompositorische Prozess abläuft. Das sind die Komponisten, die mich am meisten interessieren. Solche „familiären“ Bezüge bewusst im Programm herauszustellen, macht es dem Zuhörer einfacher, Neue Musik zu verstehen. Dieser riesige Wald erschreckt erst einmal mit seinen vielen bizarren Bäumen. Aber eine gezielte Programmzusammenstellung erhöht die Chance, das Biotop zu erkennen.
Moderieren Sie auch Konzerte?
Stefanovich: Ja, sehr oft. Es geht mir dabei nicht darum, eine pädagogische Arbeit auf der Bühne zu leisten. Es reicht, wenn Sie ein kleines Fenster öffnen und beispielsweise eine gewisse Klangfarbe oder die Entwicklung eines Motivs erklären. Das können die Zuhörer dann wiedererkennen, was auch die Spannung erhöht. Manchmal ist es auch richtig schwierig für das Publikum, das gebe ich zu. Nach dem Ende der Tonalität haben viele Komponisten ihre eigene Grammatik erfinden müssen, sie schufen jeweils separate Universen. Das versteht man nicht gleich auf Anhieb, man muss es mehrmals hören. Der Zuhörer muss sozusagen die Jacke öfter anziehen, bis sie passt. Ich kann ihm mit der Moderation in die Jacke hineinhelfen, damit es nicht so zwickt.
Ihr neues Album „Etudes & Frames“ enthält ausschließlich Werke von Vassos Nicolaou. Warum diese Wahl?
Stefanovich: Ich hatte schon in jungen Jahren das große Glück, dass viele meiner Freunde gute Komponisten waren, unter anderem Vassos Nicolaou. Ich hatte ihn gefragt, ob er ein Stück für mich schreiben könne. Am Ende sind es fünfzehn Etüden geworden. Interessant ist, dass diese Etüden beim ersten Betrachten etwas völlig anderes suggerieren, als die Finger dann produzieren. Das sind zwei völlig verschiedene Sachen. Mit dem Gehör kann man gar nicht so einordnen, was es denn eigentlich ist, wie in einem Labyrinth. Es ist klug geschrieben. Wenn Sie sich zum Beispiel eine Partitur von Skrjabin anschauen, sieht es aus wie Mozart, klingt aber völlig anders. So ist es auch bei Nicolaou. Einige seiner Etüden habe ich in meine Programme eingebaut. Das sind positiv gemeinte terroristische Attacken bei Abonnementkonzerten, die gerne blumige Überschriften tragen, damit sie sich besser kommunizieren lassen. Ich liebe diese Attacken.
Und was sagen die Veranstalter dazu?
Stefanovich: Es heißt immer, wir Musikerinnen und Musiker seien von unseren Agenten abhängig und könnten nicht wirklich frei entscheiden, wie die Programme aussehen. Das stimmt nicht. Ich betone immer, dass ich als alleinerziehende Mutter nur eine gewisse Zeit zur Verfügung habe, um Auftritte wahrzunehmen. Wenn ich auf die Bühne gehe, dann spiele ich nur die Werke, die mich als Interpretin brauchen. Vor kurzem habe ich eine Anfrage abgesagt, weil es einfach keinen Sinn machte, weil ich als Ausführende austauschbar gewesen wäre. Ich spiele nicht alles, nur um regelmäßig im Rampenlicht zu stehen. Zuerst kommt das Werk, dann erst der Interpret. Am besten wäre es, wenn man den Interpreten gar nicht nennt, weder in der Konzertankündigung noch auf der CD. Aber das geht ja leider nicht.
Lesen Sie Kritiken Ihrer Konzerte?
Stefanovich: Ja, alle lesen Kritiken (lacht). Das hat nichts mit Ego zu tun. Es ist nicht schlecht, Kritiken zu lesen. Sie eröffnen mir andere Betrachtungsweisen, weil sie auf anderen Erfahrungen beruhen, die ich in der Selbstwahrnehmung so nicht machen konnte. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich kann nicht alles wissen, auch wenn ich das Stück vielleicht hundertmal besser kenne als der Kritiker. Es könnte doch sein, dass er etwas herausgehört hat, an das ich niemals gedacht hätte. Ein einziges gut gewähltes Wort oder eine Formulierung können mich dazu bringen, die Dinge anders zu betrachten. Das ist doch schön.
Kritik kann also etwas Konstruktives sein.
Stefanovich: Ja, genau. Ich würde mir wünschen, dass wir uns alle gegenseitig mehr lehren. Kritik ist kein Triumph über andere, wie uns die Leistungsgesellschaft gerne suggeriert, was ziemlich krankhaft ist. Während mein Arbeitsmaterial Noten sind, hat der Kritiker Worte zur Verfügung. Ich kann auch nicht verstehen, wenn behauptet wird, dass man Musik nicht in Worte fassen könne. Doch, das kann man! Es wurde schon immer getan. Wenn es kein Wort für eine bestimmte Sache gibt, dann erfindet man eben ein neues. Swjatoslaw Richter hat einmal gesagt, wenn er eine Phrase in der Musik nicht einordnen könne, versuche er lieber, eine sprachliche Beschreibung zu finden. Er war ein sehr belesener Mann, er kannte sich mit bildender Kunst aus. Seine Kunstkenntnis beschränkte sich nicht auf die Musik. Er konnte aus allem schöpfen.
Auch Sie beschäftigen sich mit Kunst. Hier in Ihrer Wohnung hängen einige Werke von Ihnen. Abstrakt auf weißem Grund, sehr feine schwarze Linien. Ist das mit Tusche gemalt?
Stefanovich: Sie werden lachen, aber das habe ich mit Eyeliner gemalt! Als ich in einem Hotelzimmer erkrankt meine Zeit verbringen musste, hatte ich keine Stifte dabei und auch keinen Zeichenblock. Hinter dem Einsatz des Eyeliners steckt also nicht irgendeine feministische Botschaft (lacht). Und das Material ist leichtes Reispapier. Es lässt sich zerknüllen, so dass es interessante Strukturen und Bewegungen ergibt. Ich habe diese Serie bewusst nicht signiert, damit der Betrachter keinen Anhaltspunkt findet, wie die Bilder vermeintlich „richtig“ aufzuhängen wären. Man kann sie drehen und selbst entscheiden. Probieren Sie es mal aus!
Gerne … Das liefert tatsächlich überraschende Ergebnisse. Immer neue Kräfteverhältnisse tauchen auf.
Stefanovich: Ja. Wie in der Musik. Eine zunächst simpel erscheinende Idee schafft etwas völlig Neues.
Vassos Nicolaous Etude Nr. 11 trägt den Titel „Hast du Angst?“. Wovor haben Sie Angst?
Stefanovich: Vor nichts! (kurze Pause) Nein, stimmt natürlich nicht. Ich habe Angst, aber nur vor den ganz großen Dingen. Ich habe in meinem Leben so viel Schlimmes erlebt. Den Krieg im sogenannten Ex-Jugoslawien, vor dem so viele von uns flüchten mussten. Es waren keine Reisen ohne Visum möglich und damit gab es kaum Auftrittsmöglichkeiten. Dazu ein annuliertes Stipendium. Ich hatte engen Kontakt zu fast allen großen Themen und Traumata: Trennung, Krieg, Krankheit. Teilweise musste ich als Kellnerin arbeiten. Ich glaube, ich war eine ziemlich schlechte Kellnerin … Nun, wir alle müssen das Leben meistern. Aber Angst ist der falsche Ratgeber. Angst engt uns ein.
Die jungen Musikerinnen und Musiker schlagen sich gerade damit herum. Sie haben Angst davor, etwas falsch zu machen. Alles muss hyperkorrekt sein, wie man sich präsentiert, was man sagt. Dabei entscheiden sie sich leider zu oft für den komfortablen Weg. Sie wollen das Gute tun, genau was man von ihnen erwartet. Dabei werden alle Ecken und Kanten geschliffen. Das sind gewiss alles wahnsinnig liebe Menschen, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber das macht keinen Künstler aus. Es gibt Komponisten, die schräge Sonderlinge waren, manchmal auch echt strapaziöse Gestalten. Aber man möchte sie nicht missen.