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Interview Thomas Zehetmair

„Der Geist braucht schöne Dinge zur Inspiration“

Thomas Zehetmair, der neue Chefdirigent des Stuttgarter Kammerorchesters, kennt die internationale Orchesterlandschaft wie kaum ein anderer.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Die Frage, ob Thomas ­Zehetmair ein dirigierender Violinist oder ein Violine spielender Dirigent ist, lässt sich eigentlich nur beantworten mit: beides! So verwundert es nicht, dass er mit dem Stuttgarter Kammerorchester, dessen Chefdirigent er seit diesem Herbst ist, sowohl als Instrumentalist wie auch als Dirigent in Erscheinung treten wird.

In der Musikwelt sind Sie seit Jahrzehnten sehr bekannt, obwohl Sie noch nicht einmal eine Homepage haben!

Thomas Zehetmair: Bis jetzt habe ich es vermieden, es gibt so viele andere interessante Sachen zu tun, besonders, wenn es sich um Musik handelt. Werbung ist natürlich auch wichtig …

… in Zeiten der gnadenlosen Selbstvermarktung über Instagram und Co.

Zehetmair: Na ja, Interviews gehören auch zur Selbstvermarktung.

Aus lauter „Verzweiflung“ habe ich ein Interview mit Ihnen aus dem Jahr 1983 gefunden – damals noch mit dichter Mähne.

Zehetmair: Die kam mir mit den Jahren abhanden.

Aber Ihr Gesichtsausdruck ist geblieben!

Zehetmair: (lacht) Das ist wirklich schmeichelhaft. Also kurz gefasst: Gesicht gerettet, Frisur dahin!

Mit 23 Jahren sagten Sie bereits, dass Sie Ihre Auftritte einschränken möchten. Damals waren es sechzig Konzerte pro Jahr.

Zehetmair: Das ist heute nicht weniger geworden. Ich bin sehr froh darüber, es ist ein sehr intensives Leben, denn in jedem Auftritt steckt immer sehr viel Vorbereitung.

Sie treten ja heute nicht nur als Solist und Kammermusiker, sondern auch als Dirigent auf. Von 2002 bis 2014 waren Sie Chefdirigent der Royal Northern Sinfonia.

Zehetmair: Mit The Sage in Gateshead, am Ufer des Tyne, bekamen wir im Jahr 2004 einen tollen von Norman Foster entworfenen Konzertsaal. Damals hat man uns in ganz England darum beneidet – auch wegen der großartigen Akustik. Ein wunderbares Musikzentrum ist dort entstanden.

2012 gingen Sie für drei Jahre zum Orchestre de chambre de Paris. Wenn Sie Parallelen und Unterschiede ausmachen müssten …

Zehetmair: Ich scheue mich immer vor Verallgemeinerungen. Ich war zwölf Jahre in England und bin immer noch sehr gerne dort. Sie haben mich dort zum ­Conductor Laureate ernannt. Wir hatten in diesen Jahren eine großartige Entwicklung, wurden von der Times auch zum besten Orchester der Insel ernannt. Aber irgendwann hat alles ein Ende.

Wie war es dann in Paris?

Zehetmair: In Paris war es anders. Es gab innere Spannungen, die vielfach strukturell bedingt waren. In dem Orchester spielten mehrere Generationen. Man ging nicht in Pension, konnte praktisch im Orchester so lange bleiben, wie man wollte. Das schafft auch Frustration. Es ist mir nicht gelungen, das Orchester zu vereinheitlichen. Nach drei Jahren bin ich dann gegangen.

Thomas Zehetmair
Thomas Zehetmair

Derzeit sind Sie Chefdirigent des Musikkollegiums Winterthur, das es seit 1629 gibt. Auch wenn die Musiker nicht 400 Jahre alt sind: Wo liegt der Unterschied zu dem relativ jungen Stuttgarter Kammerorchester, dessen Leitung Sie seit Herbst innehaben?

Zehetmair: Die Winterthurer haben eine tolle, auch jüngere Geschichte mit dem Dirigenten Hermann Scherchen gehabt, der noch Schönberg, Webern, Hindemith, Strauss und Strawinsky kannte und ihre Werke uraufgeführt hat. Doch auch auf die Arbeit in Stuttgart freue ich mich sehr.

Sie haben auch viel in den USA, etwa mit dem St. Paul Chamber Orchestra gearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie dort mit den Gewerkschaften gemacht?

Zehetmair: Oh, die macht man überall auf der ganzen Welt! Ich bin selbst ein guter Probenplaner, will eigentlich nicht länger proben als nötig. Das St. Paul Chamber Orchestra hat als einziges Orchester eine besondere Regel: Wenn man etwa kurz vor zwölf, kurz vor Probenende also, mit einem Satz beginnt, dann darf man den sogar ganz ausspielen und die Probezeit überschreiten – unter der Voraussetzung, dass man nicht unterbricht. Sobald man den Satz allerdings unterbricht, ist die Probe zu Ende.

Sie erlebten auch andere Dinge, die man sich hier in Deutschland nicht vorstellen kann.

Zehetmair: Ja. Die Musiker des St. Paul Kammerorchesters waren praktisch ein Jahr lang ohne Gehalt, weil man sich bei den Verträgen nicht einig werden konnte. Es gab einen Arbeitskampf. Ich habe Partei für die Musiker genommen. Das war alles recht grenzwertig. Schließlich ist St. Paul nicht New York, wo man andere Gelegenheiten findet, um Geld zu verdienen. Auch beim Minneapolis Orchestra gab es solche Situationen. Amerika ist kein einfaches Pflaster für Orchester.

Sind wir in Deutschland zu verwöhnt?

Zehetmair: Das würde ich so nicht sagen, denn es gibt viele Freiberufler, die auch kämpfen müssen. Aber was die Orchesterlandschaft betrifft – ja, wir können von Glück reden, dass der Staat Verantwortung übernimmt. In den USA haben uns die große Anhängerschaft wie auch die Sponsoren unterstützt. Ich finde es gut, wenn man als Musiker eine gewisse Sicherheit hat. Der Geist braucht schöne Dinge, um inspiriert zu werden. Auch ein mathematischer Gedanke wäre ohne Kreativität nicht möglich.

Sie sind selbst in einem Musikerhaushalt großgeworden.

Zehetmair: Meine Eltern spielten beide in der Camerata, also im Salzburger Kammerorchester. Als Kind ging ich immer wahnsinnig gern zu den Proben. Ich sog alles auf. Mein Vater war mein wichtigster Geigenlehrer, was erstaunlich gut ging. Da war ich zwölf. Er hat mich angetrieben, ich empfand das aber nie als Druck.

Wichtig wurde für Sie auch Nikolaus Harnoncourt.

Zehetmair: Er hat damals am Mozarteum Vorlesungen gehalten. Ich war fasziniert! Mit Anfang zwanzig sollte ich für Salvatore Accardo einspringen mit den Bach-Sonaten. Ich habe Harnoncourt um Rat gefragt. Einen ganzen Nachmittag haben wir in seinem Haus ausführlich und intensiv an den Sonaten gearbeitet.

Thomas Zehetmair
Thomas Zehetmair

Was hat er Ihnen vermittelt?

Zehetmair: Er sagte gleich am Anfang, dass wir da völlig auf einer Wellenlänge seien – und hat dann alles völlig umgedreht! Es waren ganz einfache Sachen mit unglaublicher Wirkung.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Zehetmair: In der damaligen Ästhetik war es üblich, die Sechzehntel regelmäßig zu spielen. Harnoncourt aber vermittelte mir den Sinn für Sprache und Bewegung, mit teilweise einfachen Tricks. Die größeren Intervalle sollte man kürzer spielen; die melodisch linear angeordneten Töne etwas länger. Er half mir mein musikalisches Bewusstsein zu schärfen: dieses Denken zum Ende hin oder vom Anfang weg. Heute ist dies das kleine Einmaleins für jeden Musiker. Damals aber war es revolutionär.

Konnte er Ihnen auch Tipps als Dirigent geben?

Zehetmair: Ich habe nie danach gefragt, ihn aber bei den Proben sehr genau beobachtet. Jemand hat einmal gesagt, die Beziehung zwischen Orchester und Dirigent sei der Beweis dafür, dass es Telepathie gibt. Wie auch immer, es war sehr inspirierend.

Als junger Geiger bezeichneten Sie sich als „musikalischen Allesfresser“. Dann waren Sie plötzlich der Mozart-Spezialist aus Salzburg, der Schumann-Spezialist, der Spezialist für das 20. Jahrhundert … Wie das?

Zehetmair: Es sind oft Etiketten, die einem angehaftet werden, je nachdem, welches Repertoire man gerade spielt oder aufgenommen hat. Ich habe mir tatsächlich ein riesiges Repertoire aufgebaut, das durch meine Dirigenten­tätigkeit nicht kleiner wird.

Können Sie verstehen, wenn jemand sein ganzes Musikerleben Bach widmet?

Zehetmair: Ja, herrlich! Ein ganzes Leben Bach zu widmen! Als Cembalist, Orchesterleiter oder auch als Sänger – wunderbar. Nur als Geiger nicht.

Wie wehren Sie sich gegen die Tendenz jener Veranstalter, die versuchen, die Klassik zu „vereinfachen“ bzw. aufzupeppen?

Zehetmair: Wahrscheinlich hatte ich nie dieses Problem, weil ich kein Glamour-Musiker und Dirigent war, der Fußballstadien füllen muss mit populärem Programm. Von mir erwartet man interessante Programme. Da habe ich wirklich Glück.

Wie kommen Sie als höflich gelassener Österreicher im aggressiven Berlin zurecht, wo Sie heute wohnen?

Zehetmair: Eine Schriftstellerin hat mal gesagt: Berlin sei erst ruppig und dann herzlich. Und in Wien sei es umgekehrt. Nach acht Jahren fühle ich mich superwohl in Berlin.

Thomas Zehetmair dirigiert das Seol Philharmonic:

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