Sie stammen aus Nordossetien, sind in Russland ausgebildet. Wurden Sie bereits in jener Zeit, vor Ihrem Debüt beim Deutschen Symphonie-Orchester 2003, auf das DSO aufmerksam?
Ich kannte die große Tradition des Orchesters tatsächlich schon ziemlich lange – denn einige meiner Vorgänger beim DSO, Dirigenten wie Maazel oder Ashkenazy, waren natürlich auch in meiner Studienzeit in Russland in aller Munde. Vor 1990, zu Zeiten des Kalten Kriegs, gab es interessanterweise sehr viele Radioübertragungen von westlichen Orchesterkonzerten in Russland. Das damalige RIAS-Symphonie-Orchester spielte dabei durchaus eine Rolle, wenn vielleicht auch nicht die gleiche wie andere westliche Orchester. Aber auch die Schallplatten-Aufnahmen vom RIAS, zum Beispiel mit Günter Wand, wurden oft im Radio gesendet. Wer sich also tiefergehend für Klassik interessierte, der kannte das Orchester.
Als Sie 2003 erstmals das DSO dirigierten, welche Qualitäten nahmen Sie damals an dem Orchester wahr, die sich für Sie auch später bestätigt haben?
Zunächst mal ist es der Geist, der im Orchester herrscht. Als Dirigent erreiche ich nicht dann das beste Ergebnis, wenn jeder Musiker seinen Part richtig wiedergibt – sondern dann, wenn die Musiker bereit sind, 150 Prozent zu geben. Das hat mich am DSO immer überzeugt. Dieser besondere Geist betrifft aber auch Bereiche außerhalb der Musik: Das Orchester ist bereit, Neues auszuprobieren, um verschiedene Publikumsschichten zu erreichen.
Gibt es einen Moment, in welchem Sie diesen Geist besonders gespürt haben – vielleicht anders als bei anderen Orchestern?
Ich möchte eigentlich noch kein Fazit ziehen über die eineinhalb Jahre als designierter Chefdirigent des DSO. Für das Orchester war gerade die Zeit davor ziemlich turbulent, politisch gesehen. Aber gerade damals gab es tatsächlich einen Moment, wo ich die Kraft des Orchesters auf eine Art gespürt habe, die ich nicht erwartet hatte. Das war im Dezember 2009, noch viele Monate vor meiner Ernennung. Ich dirigierte Tschaikowskys 5. Sinfonie. Wenige Wochen zuvor war öffentlich das Vorhaben bekannt geworden, das DSO mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester zu fusionieren. Das wäre eine verhängnisvolle kulturpolitische Entscheidung gewesen, und glücklicherweise sind die Pläne mittlerweile vom Tisch. Aber das Konzert damals war unglaublich. Das Orchester wurde ein einziger Körper, es spielte mit einer Entschiedenheit, als würde es nie wieder auftreten können. Diese Fähigkeit des DSO, in einem kritischen Moment alle Kräfte zu mobilisieren und zu einer großen Einheit zu werden, das hat mich fasziniert. Es ist ein sehr gutes Zeichen, es zeigt, wie gesund das Orchester innerlich ist.
Orchesterfusionen sind mittlerweile ein ziemlich normales kulturpolitisches Schreckgespenst geworden. Ist die Verantwortung des Chefdirigenten für das wirtschaftliche Fortbestehen seines Orchesters in unseren Zeiten größer geworden?
Glücklicherweise sind wir hier nicht in den USA, wo Orchester ausschließlich von privaten Sponsoren und Mäzenen abhängig sind. Ein Chefdirigent verwendet dort sehr viel Zeit darauf, die Geldgeber bei der Stange zu halten. Ohne dies gäbe es dort nicht mal mehr so berühmte Institutionen wie das Philadelphia Orchestra oder die Met. Aber was oft nicht gesehen wird: In Deutschland oder Frankreich muss ich als Chefdirigent solche Aufgaben ebenfalls leisten, selbst wenn das Orchester, wie im Fall des DSO, mehrere öffentliche Träger hat. Ich muss immer auch an die regelmäßigen Sponsoren und an den Freundeskreis denken: Ich muss darauf achten, dass diese Partner sich mit dem identifizieren, was das Orchester tut. Solche Verantwortung des Chefdirigenten gab es aber auch in Europa schon immer, sie wird von der Öffentlichkeit nur neuerdings verstärkt wahrgenommen.
Worin sehen Sie Ihre Aufgabe als Chefdirigent? In welcher Weise wollen Sie das Orchester prägen?
Mein Wunsch als Chefdirigent ist natürlich, das Orchester in Bezug auf seinen grundsätzlichen Klang und seine verschiedenen Klangfarben auf eine bestimmte Art zu formen. Eine Klangvorstellung ist eine sehr persönliche Angelegenheit, die man nicht einfach dem Orchester erklären kann. Beim Orchestre National du Capitol in Toulouse habe ich gelernt, dass ich als Chef so oft dasein muss wie möglich. Zwischen dem DSO und mir gibt es schon jetzt eine hervorragende Kommunikation. Aber je mehr Zeit wir miteinander verbringen, desto weniger Zeit kostet es die Musiker, in späteren Proben herauszufinden, was ich in dieser oder jener Sinfonie will. Eine besondere Herausforderung für mich ist, in meinen Forderungen an das Orchester konsequent zu sein, aber zugleich flexibel. Ich kann mir vor der Probe eine noch so genaue Vorstellung davon erarbeitet haben, wie ein bestimmtes Oboensolo klingen soll. Wenn der Oboist das dann ganz anders spielt, aber eben wunderschön, tue ich niemandem einen Gefallen, wenn ich auf meiner Vorstellung beharre. Übrigens sind auch Gastdirigenten wichtig für das Orchester und für mich als Chef. Es müssen immer auch von außen Anregungen kommen.
Sie werden international als Spezialist für russisches Repertoire wahrgenommen, zum Beispiel debütierten Sie an der Wiener Staatsoper mit Tschaikowskys Pique Dame und kehrten mit Mussorgskys Boris Godunow zurück. Sehen Sie sich selbst als Russen-Spezialist?
Unglücklicherweise werden Dirigenten mit Klischees überhäuft, nicht nur wir russischen. Italienische Dirigenten sollen zunächst mal italienisches Repertoire dirigieren können, deutsche Dirigenten deutsche Stücke. Warum eigentlich? Man kann sich zwei Bruckner-Aufnahmen von zwei deutschen Dirigenten anhören, und es kann sein, dass man gar keine Gemeinsamkeiten feststellt. Wenn ich etwas besonderes zu russischer Musik zu sagen habe, dann aufgrund meiner sehr tiefen Beziehungen zu einem bestimmten Stück. Aber ich kann zu einem Brahms oder Strauss vielleicht genauso viel sagen. Wenn das Publikum von mir einen Tschaikowsky erwartet, wie es ihn noch nicht gehört hat, sehe ich das als Herausforderung. Wenn es mich nur deshalb mit russischer Musik hören will, weil ich aus Russland komme, ist das zu wenig. Der Grad zwischen echter Neugier und der Erwartung von Klischees ist da schmal. Als Dirigent habe ich nicht einen besonderen Zugang zur Musik aus einem bestimmten Land, sondern zu bestimmten Komponisten. Man ist natürlich immer mit einigen Komponisten vertrauter als mit anderen, das Repertoire eines Dirigenten ist kein Supermarkt.
Sie werden in der nächsten Saison beim DSO viele große Stücke von Prokofjew dirigieren, unter anderem das Oratorium Iwan der Schreckliche mit Vladimir Kaminer als Sprecher und die Suite Leutnant Kishe. Haben Sie zu diesem Komponisten ein besonderes Verhältnis?
In Prokofjews Musik ist immer ein sarkastischer Unterton, der mir sehr gefällt. Ich fand zu ihm über das symphonische Repertoire, nicht über die Oper. Prokofjews Fähigkeit, die musikalischen Charaktere und die Atmosphäre über den Rhythmus zu gestalten, ist unglaublich. In der Alexander-Newski-Kantate, die wir kürzlich gespielt haben, kombiniert er gleich zu Beginn hohe Klarinette und Piccoloflöte mit der Bassklarinette. Das erzeugt sofort das Gefühl von Kälte und Leere. Er war in diesen Kombinationen sehr mutig und wurde oft kritisiert.
Das DSO hat in den letzten Jahren versucht, jüngere Hörer zu gewinnen. Sie sind seit mehreren Jahren Chefdirigent in Toulouse. Was für Wege haben Sie da gesucht, neues Publikum anzusprechen?
Bei den Konzerten in Toulouse steht jede Generalprobe für Kinder einer bestimmten Altersgruppe offen. Es sind immer an die 400 Schulkinder dort, sie bereiten sich mit ihren Lehrern im Unterricht auf die Musik vor. Daneben gibt es Familienkonzerte am Sonntag. Sehr großen Zuspruch haben auch die Konzerte, die für Studenten keinen Eintritt kosten. Es ist jedesmal voll. Die jungen Leute gehen dann abends nicht in die Bar oder ins Kino, sie kommen ins Konzert. In Berlin versuchen wir ja, etwa mit den Casual Concerts, ähnliche Dinge. Aber das alles hat, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, keine Chance, wenn das ganze nicht von der musikalischen Bildung in der Schule flankiert wird. Musik- und Instrumentalunterricht muss einfach für jeden verpflichtend sein, wie das heute in Russland immer noch der Fall ist. Manche Kinder hassen vielleicht ihren Klavierunterricht, aber wenn sie mit der Schule fertig sind, wissen sie immerhin, wer Bach, Mozart und Beethoven sind. Hierzulande ist das nicht mehr unbedingt der Fall. Aber wenn man es nicht weiß, wird man auch später niemals in Konzerte gehen.