Mit zwölf Jahren gab sie ihr offizielles Konzertdebüt, mit dreizehn gastierte sie beim Israel Philharmonic unter Zubin Mehta in Tel Aviv. Doch auf eine „Wunderkindkarriere“ verzichtete Viviane Hagner. Sie machte ihr Abitur, studierte u.a. bei Pinchas Zukerman in New York und hat sich nun in den letzten Jahren die großen Orchester und Konzerthäuser der Welt erobert. In Konzertprogrammen wird sie meist als gebürtige Münchnerin präsentiert. Aufgewachsen aber ist Viviane Hagner in Berlin, und hier wohnt sie noch immer, mitten in der Stadt, nicht weit vom Café Einstein, das sie als Treffpunkt für das Gespräch vorschlug.
Frau Hagner, liegen Ihnen die Prokofjew-Konzerte besonders am Herzen?
Ich habe das Zweite viel seltener gespielt als das Erste. Beide Werke sind ganz unterschiedlich, das Zweite ist sehr viel melancholischer, dunkler in den Farben und kammermusikalischer – es gibt sehr viele Soli in den Orchesterstimmen, und es macht mir große Freude, so eng mit den Orchestermusikern zusammen zu musizieren. Und vor allem hat das Werk einen der schönsten zweiten Sätze eines Violinkonzerts, mit einer wunderschönen Melodie als Thema.
Bei Musikhistorikern liegt das Werk tief in der Schublade „Neue Sachlichkeit“.
Ich finde es absolut nicht nur „sachlich“. Bei Prokofjew wie auch bei Schostakowitsch ist die Emotionalität da, sie ist vielleicht etwas versteckt. Kompositorisch ist das zweite Prokofjew-Konzert nicht so revolutionär wie die Violinkonzerte von Berg oder Bartók. Trotzdem gehört es für mich zu den besten Werken des 20. Jahrhunderts für die Geige.
Merkt man, dass Prokofjew kein Geiger war?
Na, es gibt ja einige, die keine Geiger waren und doch ziemlich gute Violinkonzerte geschrieben haben. (lacht) Es liegt eigentlich sehr gut für die Geige, auch wenn es natürlich seine Herausforderungen hat in technischer Hinsicht.
Es gibt wenige Werke, die Sie allein beginnen und die gesamte Stimmung vorgeben können.
Stimmt, hier liegt der ganze Druck auf dem Geiger. (lacht) Es beginnt ja direkt mit dem, was ich mit Melancholie meine – auf der leeren G-Saite. Verlassener könnte es nicht klingen.
Manchmal muss man sich auf die Stimmung aber auch erst verständigen. Und dabei haben Sie oft nur wenig Probenzeit mit einem Orchester.
Man muss einfach sehr effektiv arbeiten. Oft setzt man sich als Solist und Dirigent vor der Orchesterprobe zusammen und spricht sich ab. Aber es macht gerade die Qualität eines exzellenten Dirigenten aus, dass er die Dinge während der Probe genau hört und sofort korrigieren kann. Das gilt auch für Solisten. Was ich mit der Zeit versuche zu entwickeln ist dieses Paar „Extra-Ohren“, wie ich es nenne: dass ich mitbekomme, was im Orchester passiert, warum etwas im Zusammenspiel nicht gut funktioniert und wie man es besser machen könnte.
Sie haben ein riesiges Repertoire. Können die Veranstalter daraus frei wählen?
Man plant ungefähr zwei Jahre im Voraus. Ich überlege mir eine Handvoll Violinkonzerte, die ich in einer Saison spielen möchte, und dann lässt man den Orchestern oder Veranstaltern meist die Wahl zwischen zwei, drei Werken. Es kommt aber auch vor, dass ein Orchester oder ein Dirigent einen Vorschlag macht, und wenn das etwas Spannendes ist, bin ich gern bereit, das zu spielen oder etwas neu zu lernen.
Spielen Sie gerne Uraufführungen?
Ich bin froh, dass ich einige Werke uraufgeführt habe, die sich als wunderbar und erfolgreich herausgestellt haben. Aber das weiß man ja nie im Voraus und die Wahrscheinlichkeit ist nicht so groß, dass sich ein Werk durchsetzt. Ich finde es wichtig, dass man den Bezug hält zu dem, was heute geschrieben wird, und mache das auch gern. Aber Neue Musik ist kein Steckenpferd von mir.
Die großen Violinkonzerte selbst der „zweiten Reihe“ haben Sie doch sicher alle studiert.
Ja, da ist man als Geiger manchmal neidisch auf die Pianisten, weil die noch viel mehr Repertoire der „ersten Reihe“ haben als wir. Aber was sollen erst die Cellisten oder Hornisten sagen? Und ich mache ja auch viel Kammermusik, da ist das Repertoire schon riesig.
Lassen Sie Werke auch mal länger liegen?
Ja, das ist auch ganz gut. Wenn ich zum Beispiel den Prokofjew ein Jahr nicht gespielt habe und wieder vornehme, dann entdecke ich ganz neue Dinge, die es für mich wieder spannend machen. Das gilt für die großen Standards wie Mendelssohn oder Tschaikowsky fast noch mehr. Es zeichnet große Werke aus, dass man über die Jahre immer wieder Neues an ihnen entdecken kann.
Wenn Sie ein Werk wieder vornehmen, arbeiten Sie dann mit den Noten?
Unbedingt. Meine Stimme habe ich natürlich noch im Kopf, aber ich könnte beim Mendelssohn-Konzert vermutlich nicht alle Stimmen auswendig aufschreiben. Ich studiere die Partitur, manchmal spiele ich Klavier dazu. Dieses Arbeiten ohne Instrument ist sehr wichtig. Wenn ich dann die Geige zur Hand nehme, geht das meist ohne Noten. Ich vertrete ja den Ansatz, dass man als Solist wirklich mit den einzelnen Gruppen im Orchester zusammen musizieren muss, und deshalb ist es mir ganz wichtig, dass ich die einzelnen Stimmen so gut wie möglich kenne und weiß, wie sie sich dynamisch und artikulatorisch verhalten.
Das klingt nach einem exzellenten Gedächtnis.
Ich glaube, das ist nicht so wild. Das ist eine Trainingssache. Es ist ja eine Kombination aus dem analytischen, dem auditiven und dem haptischen Gedächtnis, und darauf habe ich mich bis jetzt zum Glück immer verlassen können.
Sie haben keine Angst vor Aussetzern?
Nein. Ich verlasse mich lieber darauf, was ich schon abgespeichert habe. Ich finde es störend, wenn ich mal nach Noten spielen muss.
Spüren Sie einen Druck, bevor Sie auf die Bühne gehen?
Das kommt sehr auf die Vorbereitung an. Nicht nur, dass ich die Partitur studiert und meine Stimme in den Fingern habe. Wichtig ist für mich das Bewusstsein: Heute abend werde ich dieses Werk auf dieser Bühne spielen. Ich habe keine Rituale, aber wenn ich weiß, die Proben waren gut und ich komme mit dem Dirigenten aus, dann habe ich keinen Grund, aufgeregt zu sein. Eine gewisse Art von Aufregung ist natürlich immer da, die ist auch gesund. Wenn man es zu lässig nimmt, geht man auf die Bühne und ist plötzlich von dieser Atmosphäre überrascht. Das ist mir auch schon passiert – das ist kein gutes Gefühl. (lacht) Aber wenn alles gut ist, freue ich mich auf das Konzert.
Genießen Sie diese halbe Stunde auf der Bühne? Natürlich!
(lacht) Naja, nicht immer. Wenn ich merke, die Chemie stimmt, man musiziert wirklich zusammen, und das Publikum hört zu und geht mit, dann ist das toll. Manchmal hört man so richtig ein gemeinsames Ausatmen.
Wissen Sie jetzt schon, was Sie im Konzert als Zugabe spielen werden?
Ich überlege mir schon vorher, was zu dem Stück passt und zu dem Werk nach der Pause. Aber manchmal lasse ich mich auch aus dem Moment heraus inspirieren.
Hören Sie sich eigentlich manchmal die Sinfonie im zweiten Teil an?
Fast immer. Erstens weil ich dadurch das Repertoire kennenlerne: Ich habe enorm viele Werke als Trittbrettfahrerin gehört, viele Interpretationen vergleichen können mit den Jahren. Und zweitens lerne ich die Orchester viel besser kennen. Ich höre eine ganze Menge, wenn ich vor dem Orchester stehe, aber ich sehe die Musiker ja nicht. Und es ist auch musikalisch etwas anderes, sie als Sinfonieorchester in einem sinfonischen Werk zu hören. Und außerdem ist das eine gute Art, sich auf andere Gedanken bringen zu lassen.
Sind Sie nach dem Auftritt eher euphorisch oder fallen Sie in ein Loch?
Es gibt beides. Ich könnte nicht sagen, warum. Das hat nicht immer damit zu tun, wie das Konzert gelaufen ist. Ich bin wie die meisten Musiker ein Nachtmensch. Man verbringt noch Zeit mit anderen Musikern, geht was essen oder liest noch ewig lang. Das wird dann schon sehr spät.
Ist das Dasein als Solistin der Traumjob, wie Sie ihn sich vorgestellt haben?
Es ist schon toll! Wobei – wenn ich im zweiten Teil im Konzert sitze und eine tolle Sinfonie höre, denke ich mir manchmal, dass es auch mal spannend wäre, dieses Repertoire zu spielen. Aber ich bin froh darüber, was ich als Solistin tun kann. Ich mache außerdem viel Kammermusik. Und ich bin Professorin hier in Berlin – wenn auch in einem zeitlich sehr überschaubaren Rahmen. (lacht) Anders wäre das gar nicht zu machen. Unterrichtet habe ich bislang nur in Form von Meisterkursen. Langfristiges Unterrichten von Studenten ist eine andere, sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Darauf freue ich mich sehr.
Sind die Tage in Berlin für Sie eher Urlaub oder konzentrierte Arbeit?
Beides. Ich finde es sehr erholsam, im eigenen Bett schlafen zu können. Es überfallen einen aber auch Dinge, von denen man auf Reisen verschont bleibt: Organisation, Programmplanung usw., aber ich würde den Luxus, dass ich mich stundenlang mit neuem Repertoire beschäftigen kann, niemals als Arbeit bezeichnen. Das ist entspannend. Ich habe keine festen Tagesrituale. Wenn ich zum Beispiel von einer Tournee wiederkomme, auf der ich viel gespielt habe, lasse ich es ruhig angehen. Und wenn eine Aufnahme bevorsteht, spiele ich mehr. Das können dann durchaus sieben, acht Stunden sein, die ich intensiv an der Musik „arbeite“. Dann gibt es aber auch immer wieder Reisetage, wo ich gar nicht dazu komme, das Instrument in die Hand zu nehmen.
Reisen Sie gern?
Ich könnte gut ohne die Hetze an den Flughäfen leben. Es gehört einfach dazu. Es gibt Städte, da macht es nichts, wenn man außer Probe und Konzert nichts mitkriegt. (lacht) Aber manchmal wünsche ich mir doch, in schönen Städten mehr Zeit zu haben. Wenn ich zum Beispiel wie in der vergangenen Woche einen Vormittag in Madrid frei habe und mich von den Gemälden im Prado inspirieren lassen kann, dann fühle ich mich als reisender Solist schon sehr privilegiert.
Können Sie Musik noch einfach genießen?
Oh ja. Vielleicht nicht immer Geigenmusik. Eher sinfonische oder Kammermusik. Ich lasse mich gern einnehmen von Musik, immer noch. Aber Stille ist schon auch sehr schön. (lacht) Was ich nicht mag, ist Musik als Hintergrund, da höre ich dann doch zu genau hin.