Seine Worte wählt er präzise. Seine Aufmerksamkeit ist hoch. Dennoch erscheint der Chefdirigent und Künstlerische Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) nicht als Mann aus dem Elfenbeinturm, der zu Konzerten oder Interviews notgedrungen in die Realität herabsteigt. Vielleicht hat ihn seine Jugend in der ehemaligen Sowjetunion und der reiche Erfahrungsschatz seines Vaters, ebenfalls Dirigent, geprägt. Zum Mitspieler zu werden, riet dieser seinem Sohn. Und der setzt auf immerwährendes Lernen und situative Auseinandersetzung.
Sie verbringen viel Zeit in Bibliotheken und Archiven, um Partituren und Handschriften zu studieren. Was entdecken Sie da?
Vladimir Jurowski: Es ähnelt einer Detektivarbeit. Was ich in den Partituren erkennen kann: An der einen Stelle zitterte die Feder, an einer anderen war der Komponist dagegen mit Nachdruck bei der Sache. Manchmal sieht man auch die ganze Radiererei, bei Beethoven sowieso. Bei der Neunten, die ich mit dem RSB beim Silvesterkonzert aufgeführt habe, ist es besonders sichtbar. Bei vielen Werken, deren Autografe man inzwischen im Internet anschauen kann, sieht man all diese Entwicklungen, die dann aber im Enddruck meist nicht berücksichtigt wurden. Mit dem gängigen Orchestermaterial haben die Musiker also gar nicht die Möglichkeit, einmal auszuprobieren, wie es in der Urfassung mal klang, bis es diese endgültige Gestalt angenommen hat. In der heutigen Welt sollte man den Musikern die komplette Information geben, um ihnen dann freieHand bei der letzten Entscheidung zu lassen, welche Fassung gespielt werden soll.
Ist es nicht Aufgabe des Dirigenten, die Linie vorzugeben?
Jurowski: Auf jeden Fall. Aber ich finde, es ist immer besser, dem Wissenden als dem Unwissenden eine Linie vorzugeben. Die Unwissenden nehmen es als die einzig richtige und gültige Lösung an. Da haben wir es wieder, das Einparteiensystem, was genauso schlimm in der Kunst wie in der Politik ist. Insofern begreife ich die Rolle des Dirigenten eher als die eines Organisators, eines Lenkers, aber nicht als die des einzigen Bestimmers. Es macht mir mehr Spaß, mit Musikern zu diskutieren, die informiert sind. Man kann ja auch von anderen etwas lernen.
Was konnten Sie von Ihrem Vater Mikhail Jurowski lernen?
Jurowski: Eine ganze Menge. Wenn man seinen eigenen Vater so oft bei der Arbeit beobachten konnte, wie ich es tat, sieht man eben alles. Die positive Seite wie auch die Rückseite, die vielen unsichtbar bleibt. Und ich sehe, wie er sich über die Jahre verändert hat. Trotz seiner festen Ansichten ist er doch inzwischen offener für Neues. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir in den 1990er Jahren über die Interpretation Alter Musik stritten. Über die historisch informierte Spielweise wollte er damals nichts wissen und tat es als unseriös ab. Inzwischen sieht er das ganz anders. Vom Prinzip her sehe ich am Konservatismus nichts Schlechtes: Die Leute, die vor uns lebten, haben auch ein oder zwei Dinge richtig erfasst. Das gilt es zu erhalten. Man muss nur das richtige Maß finden aus dem Tradierten und dem Neuen. Den einen Rat von meinen Vater – „Du musst besser sein als die anderen, damit du deinen verdienten zweiten Platz einnehmen darfst“ – habe ich sehr beherzigt. Diese Aussage bezog sich vor allem auf die Schwierigkeiten, die den Menschen jüdischer Abstammung im Sowjetstaat damals widerfuhren. Die Situation ist heute zwar eine ganz andere, aber ich bin ihm für diesen harten Leitsatz noch heute sehr dankbar, weil ich dadurch gelernt habe, in meiner Arbeit alles zu geben.
Er hat Sie nicht davon abgehalten, Dirigent zu werden?
Jurowski: Nun, am Anfang war ich mir selbst nicht so sicher, welchen Weg ich gehen würde. Das war nicht so wie bei Simon Rattle, dem das Licht schon als Jugendlicher aufging. Bei mir konkurrierte der Wunsch nach der Musikerlaufbahn mit vielen anderen Dingen: Kunst, Literatur, Theater, auch Philosophie und Religion, die mich nach wie vor beschäftigen. Mein stärkstes Interesse galt der Literatur. Mit vier Jahren habe ich angefangen zu lesen und las alles, was mir in die Hände kam. Ein wenig vermisse ich das jetzt, denn bei der vielen Arbeit bin ich ja meist gezwungen, nur Fachliteratur zu studieren. Aber ich liebe Poesie und auch all die anderen Literaturformen oder Literaturgeschichte. Man lernt dabei immer etwas über sich selbst – und über die Musik, indem man sie mit der Kunst des Wortes vergleicht.
Es kommt auf jeden Ton an. Wie wichtig ist Ihnen Akribie und Detailarbeit mit dem Orchester?
Jurowski: Mir persönlich ist sie hoch und heilig. Die Aufmerksamkeit bestimmten Details gegenüber ist enorm wichtig, solange man das große Ziel nicht aus den Augen verliert. In dieser Fokussierung bin ich fast autistisch, könnte man sagen. Das sehe ich aber nicht als etwas Negatives. Jedes Pünktchen über dem i und jedes Komma an der richtigen Stelle tragen zum Erfolg und zum organischen Dasein des Stücks bei. Aber ab einem bestimmten Punkt muss man drüberstehen und loslassen können, sonst wird man zum Kontrollfreak. Das schärfte mir auch mein Vater ein: „Man kann im Konzert nicht nur das Eingeübte abrufen, man kann nicht ständig der Trainer sein, irgendwann muss man zum Mitspieler werden.“
Sie praktizieren Yoga. Wann haben Sie damit angefangen?
Jurowski: Vor etwa 18 Jahren. Ich befand mich damals in einer vorzeitigen Midlife Crisis, mit 28 Jahren. Eigentlich habe ich alles im Leben früh angefangen: Beruf, Familie, Kind und eben auch die Midlife Crisis. Mittlerweile verstehe ich, dass es ein beginnendes Burnout-Syndrom war. Obwohl ich immer sehr vorsichtig war und frühzeitig abbremste, ging es beruflich schneller voran, als es mir vielleicht lieb war. Ich musste damals sogar einige Konzerte und Produktionen absagen. Wie Baron Münchhausen musste ich mich an den Haaren aus dem Sumpf ziehen und instinktiv griff ich dazu, was mich schon immer faszinierte. Sport interessierte mich weniger. Die fernöstlichen Disziplinen waren mir näher, zum Beispiel Kampfkünste, die ich früher in verschiedenen Varianten ausprobiert hatte. Yoga schien in der Krise einfach meine Sache zu sein. Es gab mir Halt, Ziel und Stütze. Es hat mich physisch und psychisch stärker gemacht. Yoga, das bei mir zum täglichen Ritual geworden ist, hilft mir auch, um mich auf ein Konzert vorzubereiten. Die „Entleerung“, von der Celibidache gerne sprach, kam mir früher als Begriff etwas unverständlich vor. Aber inzwischen weiß ich genau, wie er das meinte.
In einem Interview haben Sie sich einmal zum Verhältnis zwischen Lernen und Wissen geäußert …
Jurowski: „Lernen ist nicht Wissen anhäufen“, das war wohl der Satz, den Sie meinen? Man kann sich mit verschiedensten Informationen vollstopfen und wird dabei nicht klüger. Das passiert uns allen durch die heute unglaubliche Zugänglichkeit von jeglicher Information. Wissen ist für mich eine verinnerlichte, selbst durchlebte Information. Und es befindet sich in ständiger Entwicklung. Manchmal, wenn man seine eigenen früheren Aufzeichnungen hört, kommen sie einem als sehr unreif vor, dabei hatte man damals das Gefühl, alles nach bestem Wissen gemacht zu haben. Aber nichts ist für immer: Was einem gestern als gut und richtig erschien, gilt heute nicht mehr. Wobei es mit der Entwicklung nicht immer linear von „falsch“ nach „richtig“ geht. Man kann durchaus mit dreißig Jahren Recht gehabt haben, während die revidierte Meinung, die man mit fünfzig hat, objektiv nicht mehr stimmt.
Was ist objektiv? Gibt es das eigentlich in einer Interpretation: falsch oder richtig?
Jurowski: Was es gibt, ist die einzig richtige Entscheidung im jeweiligen Moment. Die spätere Beurteilung wiederum ist immer subjektiv. Schauen Sie: In dem Moment, wo sich ein Komponist das Recht nimmt, die frei in der Natur existierenden Töne zu einem Werk zusammenzuflechten, eifert er dem Schöpfer nach und kreiert etwas nie Dagewesenes. Der Interpret greift das neue Werk auf und rekreiert es auf seine persönliche Art aufs Neue. Beide nehmen sich bei ihren Aktionen das Recht, etwas nach ihrem Gutdünken zu tun, was sie für den jeweiligen Moment für einzig richtig halten. Wie es Nietzsche sagte: „Der Gott ist tot, jetzt müssen wir wie Götter werden“. Die Schöpfung, wenn sie einmal existiert, gehört nicht mehr dem Schöpfer allein, sie gehört allen. Der Komponist hat natürlich das Anrecht, das Werk zu verändern, solange er lebt. Aber die spätere Fassung muss nicht immer die bessere sein. Zwei Beispiele kann ich anführen. Mahler hat sein op. 1, „Das klagende Lied“, das beim Beethoven-Wettbewerb in Wien mächtig durchfiel, durch seine spätere Revision bequemer und zahmer gemacht. Heute wird fast ausschließlich die Urfassung gespielt, weil sie viel mutiger ist, viel komplexer, auch komplizierter in der Umsetzung. Oder Schostakowitsch, der seine radikale „Lady Macbeth von Mzensk“ später in die viel traditionellere und glattere „Katerina Ismailowa“ umwandelte. Auch hier spielt man heute vor allem die ursprüngliche Fassung.
Vladimir Jurowski dirigiert das Orchestra of the Age of Enlightenment:
https://youtu.be/p3OTVEzJ1TI