Konnte Gustav Mahler das Konzertpublikum noch mit Herdenglocken auf der Bühne überraschen, sind es heutzutage Heulschläuche und Eierschneider, die als ungewöhnliche, aber effektvolle Instrumente zum Einsatz kommen. So in Lisa Streichs „Reigen“, mit dem das Lucerne Festival offiziell in seine diesjährige Sommerausgabe gestartet ist. Zum ersten Mal wurde das internationale Klassikfest gemeinsam vom Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) mit Dirigentin Johanna Malangré und vom Lucerne Festival Orchestra unter der Leitung von Riccardo Chailly eröffnet.
Heitere Klangexperimente und wehmütige Gesänge
„Ich wünsche mir, dass der Raum im Reigen untergeht“, schickte Composer-in-Residence Lisa Streich der Uraufführung ihrer anlässlich des zwanzigsten Geburtstags der Lucerne Festival Academy komponierten Fanfare voraus. Auf der Bühne des KKL Luzern hatten nur die Streicher des LFCO Platz genommen, ein Dutzend Musiker waren auf verschiedenen Ebenen im Saal aufgestellt. In Kombination mit unterschiedlichen Dynamiken und dem durch die Heulschläuche erzeugten Hintergrundbrummen stellte sich rasch ein Gefühl der Schwebe ein. Unweigerlich suchte man nach der Quelle, aus der das melodische Material – jahrmarktsähnliche Versatzstücke aus Wiener Walzern – ans Ohr drang. Der schwedisch-deutschen Komponistin ist so passend zum Festivalmotto „Neugierde“ ein interessantes Experiment mit den Klanggewohnheiten des Publikums gelungen, einzig das abrupte Ende nach nur fünf Minuten sorgte für etwas Irritation.
Auf den heiteren Auftakt folgte ein Auszug aus Wolfgang Rihms „Ernsten Gesang“. Vor wenigen Wochen war der künstlerische Leiter der Lucerne Festival Academy und wichtige deutsche Gegenwartskomponist gestorben. Rihm hatte das Stück einst seinem verstorbenen Vater gewidmet, nun erklang die erste Hälfte daraus zu seinem Andenken. Ausgehend von einzelnen tiefen Tönen in den Klarinetten und getragen von den Tremoli der Kontrabässe entwickelte sich hier ein zunächst düsterer und verzweifelter, später wehmütiger und ja, auch schöner Gesang, vorgetragen vom Englischhorn. Mit rundem und stets bestechend klarem Ton gestaltete Miriam Pastor hier den Solopart.
Riccardo Chailly schafft mit hochpräzisem Dirigat Balance
Dunkel und vor der Welt fliehend begann Gustav Mahlers siebte Sinfonie. Bereits in den ersten Minuten kristallisierte sich der enorm kompakte Klang des Lucerne Festival Orchestra heraus, der den Abend über Bestand hatte. Der Ton der Streicher changierte zwischen warm und silbrig und geriet auch in Momenten größten Einsatzes, ob im düsteren Marsch der Einleitung oder dem bissig-markanten Triumph-Finale, nie zu breit. Die Bläser, allen voran das tiefe Blech, beeindruckten mit einem raren Reichtum an Nuancen, von fast schreiender Prägnanz bis zu nicht enden wollenden Diminuendi und messerscharfen chromatischen Linien. In den drei Mittelsätzen stellte das Orchester, dessen Mitglieder sich aus europäischen Spitzenklangkörpern rekrutieren, seine Klasse insofern unter Beweis, als dass es mühelos und mit stets innigem Ausdruck zwischen den intimen kammermusikalischen Passagen und den Vollklang-Abschnitten zu wechseln vermochte.
Riccardo Chailly sorgte mit hochpräzisem Dirigat für die nötige Balance und ließ den zahlreichen Soli innerhalb des Orchesters die Bühne bereiten. Auch der noch so leiseste Ton – ob von Herdenglocke, Mandoline, Gitarre oder Cello in extremer Lage – war deutlich zu vernehmen. Nur selten ist Mahlers monumentale und nicht gerade zugängliche siebte Sinfonie so transparent zu hören, wie an diesem Abend in Luzern.