Vergliche man ein Konzertprogramm mit einem Drehbuch, so wäre jenes, das Igor Levit für den gestrigen Abend in der Neuen Aula der Universität Heidelberg erarbeitet hat, auf den ersten Blick eine spannungskurvenarme Dokumentation. Genau zwanzig Charakterstücke von Johannes Brahms, dem diesjährigen Fokus-Komponisten des Heidelberger Frühling Musikfestivals, erspielte der Co-Künstlerische Leiter: von op. 116 bis op. 119. Doch Levit ist ein Regisseur an der Klaviatur. Er weiß, wie man das Publikum an die Hand nimmt, wie man Geschichten erzählt.
Die Essenz dieser Brahmschen Miniaturen ist die Befreiung von jeglicher Effekthascherei. Wer ihren nüchternen Charakter nicht versteht, erzeugt nur eine zähe graue Masse. Doch Igor Levit weiß damit umzugehen. Die sieben Fantasien op. 116 wurden bei ihm zu einem kontrastreichen Stimmungsbild. Introvertierte Intermezzi prallten auf extrovertierte Capricen. Das Ergebnis: eine Chiaroscuro-Malerei aus der Hand des Pianisten. Ein völlig anderes, aber nicht minder faszinierendes Bild zeichnete Levit bei den Intermezzi op. 117. Völlig fragil wirkten hier diese Zwischenspiele, die sich in der mit nicht allzu guter Akustik gesegneten und durch viele Störgeräusche erhellten Aula behaupten mussten. Levit ließ sich dabei nicht aus dem Konzept bringen. Behutsam griff er die gläsernen Kunstwerke auf und verlieh ihnen ihren einzigartigen Glanz.
Triumph des Klaviervirtuosen Igor Levit
In den Werkzyklen op. 118 und op. 119 ging der 37-jährige Künstler einen anderen Weg. Mit beständigem Nachdruck und nur wenigen ausladenden Verzierungen bediente er sich seines Klangfarbkastens und schuf ein zart getöntes Aquarell. Wohldosiert erhielt jedes Stück so genau die Menge an Individualität, die zum Verstehen des Charakters nötig war.
Es ist ungewöhnlich, Werkzyklen desselben Komponisten in einer vergleichbar dichten Reihung durch einen Pianisten zu hören, scheint die Gefahr der Ermüdung und Abnutzung des Repertoires doch offenkundig. In Heidelberg aber triumphierte der medienpräsente Klaviervirtuose. Nur wenige Pianisten sind in der Lage, Stücken dieser nihilistischen Kleinstform so viel Leben einzuhauchen und dem Publikum immer wieder aufs Neue einen Zugang in diesen Abschnitt von Brahms‘ Biografie zu ermöglichen wie Igor Levit.