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Film-Kritik: Tár

Von ganz oben in die Tiefe

Todd Fields filmisches Musikdrama über die fiktive Dirigentin Lydia Tár alias Cate Blanchett feierte seine Kino-Premiere.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Da steht sie, die Dirigentin Lydia Tár alias Cate Blanchett, hinter dem Bühnenvorhang unmittelbar vor dem Auftritt, spannt die Kiefermuskulatur an, nimmt noch einen Schluck Wasser, atmet tief durch. „Ready?“, heißt es aus dem Off. Ready. Und ab auf die Bühne.

Diese erste Szene aus Tár ist die intimste eines fast dreistündigen Films, fängt sie doch den Moment ein, der dem Publikum stets verwehrt ist. Was mögen die Gedanken eines Künstlers, einer Künstlerin vor dem Auftritt sein? Zum wirklichen Auftritt der Dirigentin Lydia Tár vor einem Orchester wird es im ganzen Film nie wirklich kommen, mit Ausnahme kleiner Proben-Fragmente. Viel aber erfährt der Zuschauer über Lydia Társ Werdegang, über das Leben einer fiktiven Dirigentin inmitten von Persönlichkeiten, die tatsächlich existiert haben. Fiktion und Realität vermengen sich hier. Leicht unredlich ist diese Vorgehensweise des Regisseurs Todd Field, der sich zwar als ausgezeichneter Kenner des Musikbetriebs outet, mitunter auch am Klischee vorbeischrammt.

Eine dem Zeitgeist geschuldete Twitter-Biografie

Társ Werdegang liest sich wie eine dem Zeitgeist geschuldete Twitter-Biografie: Schützling von Leonard Bernstein, Absolventin des Curtis Institute und Musikwissenschaftlerin an der Universität in Wien mit Schwerpunkt auf der Musik der indigenen Völker aus dem peruanischen Ucayali-Tal. Als Musikinterpretin beruft sie sich, na klar, auf die jüdische Mystik. Sie lebt als selbstbezeichnete „U-Haul-Lesbe“ mit ihrer deutschen Partnerin Sharon Goodnow (Nina Hoss) mitsamt syrischer Adoptivtochter namens Petra in einer Berliner Industrial-Chic-Luxuswohnung.

Sie kann klug über Jean Baptiste Lully und mit ihrem Sponsor Eliot Kaplan (Mark Strong) parlieren, dessen Figur dem New Yorker Wirtschaftsjournalisten und Unternehmer Gilbert Kaplan (1941-2016) nachempfunden ist, der ohne größere musikalische Vorkenntnisse Mahlers zweite Sinfonie aufführte und als One-Hit-Wonder in die Dirigentengeschichte einging. Selbstverständlich hat Lydia die „Big Five“-Orchester dirigiert, einen Emmy, Grammy, Oscar und Tony kassiert. Jetzt, als Chefdirigentin eines nicht namentlich genannten deutschen Orchesters, von dem alle ahnen, dass es die Berliner Philharmoniker sind, steht die Live-Aufnahme von Mahlers 5. Sinfonie an. Durch die Deutsche Grammophon, die wiederum namentlich erwähnt wird.

Ein Bärendienst für die realen Dirigentinnen

Lydia Tár scheint alles richtig gemacht zu haben und scheitert dennoch an sich selbst. Nachts suchen sie mysteriöse Geräusche, paranoide Visionen und surrealistische Flashbacks heim. Luis Buñuel lässt grüßen, vielleicht auch Stanley Kubrick, den Field persönlich kannte, trat er doch als Pianist auf den berüchtigten Partys in Kubricks Kultfilm Eyes Wide Shut auf.
Tagsüber aber versteht es Lydia, als gewiefte Schurkin alle einzuschüchtern, Intrigen hinter den Kulissen spinnen, die Castings zu manipulieren, Karrieren und Leben zu zerstören. Sie ist eine Frau, die ihre musikalischen Triumphe auf der Bühne für sich alleine beansprucht und nicht zu teilen gedenkt, die glaubt, dass ihr alles zusteht.

Am Ende wird Lydia alles verlieren: Job, Frau und Tochter. Fields Film skizziert die Dirigentin als machtbesessene und neurotische Persönlichkeit. Damit erweist er den derzeitigen realen Dirigentinnen einen Bärendienst. Das ist schade. Intrigen sind wohl leichter und spannender zu inszenieren als die oft sehr anstrengende Arbeit der Musiker bei der Erarbeitung einer Partitur.

Kleider machen Leute

Bei den Filmfestspielen in Venedig wurde Blanchett als „Beste Darstellerin“ ausgezeichnet. Sie gewann einen Golden Globe und wurde für die diesjährigen Oscars nominiert. Ein Teil des Erfolgs sei an dieser Stelle besonders dem Herrenschneider Egon Brandstetter vergönnt. In seinem Atelier in der Berliner Chausseestraße spielt eine Szene, die es in den Trailer schaffte. Darin sieht man Blanchett, wie sie sich den Anzug für den Auftritt anpassen lässt. Vier volle Tage habe das Team bei ihnen gedreht, berichtet Brandstetter, dafür wurde die ganze Straße abgesperrt. Auch Regisseur Field habe sich für den Galaauftritt in Venedig einen Anzug von ihm schneidern lassen.

concerti-Tipp:

Tár
ab 23.2. im Kino
Weitere Infos unter upig.de/micro/tar

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