Gibt es etwas Schöneres, als in einem Konzert mitzuerleben, wie etwas vollkommen Neues erschaffen wird? Zu spüren, wie genau in diesem Moment Musik entsteht? Und dann am nächsten Tag mit neugierigem Blick in der Zeitung die Kritik nachzulesen, zum einen, um sich die schönen Stunden erneut ins Gedächtnis zu rufen, und zum anderen, um die Bestätigung zu erhalten, etwas ganz Besonderes miterlebt zu haben.
Strukturwandel der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert
Doch nicht immer stimmen Publikumsmeinung und Kritikerbetrachtung überein, mitunter werden hier sogar neue Feinde geschaffen. „Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent“, lautet eine berühmte Gedichtzeile von Goethe. Und genau das wäre 2006 im Frankfurter Theater sogar beinahe passiert: Ein Schauspieler sprang von der Bühne, entriss dem Kritiker den Notizblock und beschimpfte ihn.
Dabei existiert die Musikkritik noch gar nicht allzu lang. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas beobachtet vor allem im 18. Jahrhundert einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Im Wechsel von der feudalen zur bürgerlichen Ordnung musste, was zuvor selbstverständlich war, jetzt auf einmal kommuniziert und debattiert werden. Und auch in der Musik wollte das bürgerliche Publikum objektive Maßstäbe zur Beurteilung der ständig neuen französischen, englischen und italienischen Werke erhalten. Die Aufgabe einer Kritik war es also festzustellen, ob der Komponist eine gewisse Form einhielt und erfüllte – oder eben auch nicht.
Der Kritiker: Aufklärer, Erzieher, Vermittler
Bis heute übernimmt der Kritiker die Rolle des Aufklärers, Erziehers, des Mittlers zwischen Musikern und Publikum, des Warnenden und des Enthusiasten. Gleichzeitig muss er sich seiner großen Verantwortung im Klaren sein. Er kann Karrieren fördern oder zerstören. Ein Kapitel seiner Lebenserinnerungen betitelt der Tenor Peter Schreier mit der Überschrift „Kritik muß sein“ und kommt zu folgendem Schluss: „Richtig angesetzte Kritik bedeutet konstruktive kulturpolitische Arbeit. Damit hat der Kritiker ein verantwortungsvolles Amt, und wer den rechten Gebrauch davon macht, kann viel bewirken – durch positive wie auch durch einschränkende Urteile.“
In SWR2 Essay beschäftigt sich Lutz Neitzert in der zweiteiligen Sendung „Gute oder schlechte Musik?“ mit der Geburt der Öffentlichkeit aus dem Geist der Musik anhand der Musikkritik im 18. und 19. Jahrhundert. Auch thematisiert er die Frage, wie der Diskurs über Musik auch zum Trainingsfeld für Markt- und Meinungsbildung überhaupt wurde. Doch es gilt: Fehlurteile kommen vor und letzten Endes muss sich der Hörer sein eigenes Urteil bilden.
concerti-Tipp:
Mo. 1.10., 22:03 Uhr SWR2
Essay
Gute oder schlechte Musik? (1/2)
Die Geburt der Öffentlichkeit aus dem Geist der Musik: Musikkritik im 18. und 19. Jahrhundert
Teil 2 am Mo., 5.11., 22.03 Uhr