Sie sind alle da: der Bär, das Huhn, die Hummel, der Schwan. Im Berliner Zoo kreuchen und fleuchen gewiss diverse andere Exoten herum, aber die spielen beim Konzert der Berliner Symphoniker nur eine Nebenrolle. Im Flusspferdhaus führt das Orchester ein Programm auf, das seltsam angliziert mit „OverTiere“ überschrieben ist. Im musikalischen Vokabular geschult ahnt man: „Ouvertüre“ ist gemeint. Und tatsächlich feiern die Musikerinnen und Musiker hier vorab die Ankunft ihres neuen Chefdirigenten, der mit der Saison 2021/22 offiziell antritt.
Das Publikum trägt keine Abendgarderobe: Behäbige Tiere in Schlammpfützen, ein geübter Tontechniker sowie einsam-fokussierte Videomenschen bilden den Rahmen. Denn die kunstferne Coronapolitik wollte auch hier keine Ausnahme machen, das Geschehen wurde aufgezeichnet. Zum Glück können sich Kameras und Mikrofone nicht infizieren, deshalb darf das Berliner Publikum (und mit ihm die Welt) das erste Konzert mit Hansjörg Schellenberger nachträglich im Stream ab 9. Mai verfolgen. Den Anfang macht die Ouvertüre aus Franz Schuberts Lustspiel mit Gesang „Der Teufel als Hydraulikus“. Die Szene wechselt zu Beethovens 6. Sinfonie „Pastorale“ mit ihrem 2. Satz. Dann folgen Haydn, Sibelius, Debussy und andere mit dem erwähnten musikalischen Getier.
Doppeltes Benefizkonzert
Das Setting hat Hansjörg Schellenberger begeistert: „Die Tiere waren entzückend! Man konnte sogar ein Flusspferd im Waser beobachten, das mit der Musik (scheinbar) mitwippte.“ Aber, so fügt er hinzu, der Ort sei nicht nur wegen seiner außergewöhnlichen Aura gewählt worden. „Als selbst durch den Lockdown in Not geratene Institution wollten wir eine Solidaritätsaktion starten und hatten uns mehrere Möglichkeiten überlegt. Ein Kollege im Orchester kam dann auf die Idee, etwas im Berliner Zoo zu machen, dem ja neunzig Prozent seiner Einnahmen weggebrochen sind. So ist es ein doppeltes Benefizkonzert geworden. Wir konnten auch Wolfgang Schäuble gewinnen, der zu unserem Stream ein Begrüßungsvideo aufgenommen hat.“
Die akustischen Verhältnisse im Flusspferdhaus seien natürlich nicht mit denen eines Konzertsaals vergleichbar, weswegen man zu einem kleinen Kniff greifen musste. „Wir haben die Tonaufnahmen in unserem Proberaum schon vorproduziert und im Zoo dann playback aufgenommen.“ Solche medientechnischen Erfahrungen würden in Zukunft immer relevanter werden, erklärt Schellenberger. „Das Verständnis für Aufnahmetechnik ist gerade jetzt in Zeiten der gestreamten Konzerte für uns Musiker essentiell. Und Marketing sollte beim Musikstudium viel mehr beachtet und als Fach angeboten werden. Klassische Musik muss absolut den in den Köpfen noch vorhandenen goldenen Turm verlassen!“
War 21 Jahre bei den Berliner Philharmonikern: Hansjörg Schellenberger
Den Elfenbeinturm hat der gebürtige Münchner noch unter Herbert von Karajan miterlebt, später unter Claudio Abbado. 21 Jahre lang war Schellenberger Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker, bevor er 2001 die Seiten wechselte und sich als Dirigent profilierte. Seit Ende 2013 ist er Chefdirigent des Okayama Philharmonic Orchestra, sein Vertrag läuft bis 2022. Mit der neuen Tätigkeit bei den Berliner Symphonikern sei das durchaus vereinbar. „Mein Vertrag endet im März kommenden Jahres. Es sind noch genau drei Konzerte bis dahin. Das lässt sich gut koordinieren.“
Der 73-Jährige, dem man sein Alter gewiss nicht ansieht, ist voller Tatendrang. „Die Berliner Symphoniker hat immer schon ausgezeichnet, dass sie mit der Musik zu den Menschen zu gehen, also in die Schulen, bei Familienkonzerten und mit Aufführungsplätzen in den Berliner Bezirken. Da wollen wir verstärkt unser Profil schärfen. Eine weitere Idee ist, in unserem Spielplan Frühwerke mit reifen Stücken verschiedener Komponisten anzubieten. Und einmal jährlich geben wir ein Open-Air-Konzert, dieses Mal am 1. August in der Wuhlheide mit Musik von Ennio Morricone.“ Auf die Frage, ob er Western-Fan sei, antwortet Schellenberger lächelnd: „Nein. Aber Morricones Musik ist für mich hohe Kunst im Filmmusik-Genre. Er komponiert qualitativ auf sehr hohem Niveau und sehr persönlich. Wir waren in den neunziger Jahren übrigens lehrende Kollegen in den Sommerakademien der Accademia Chigiana in Siena.“